Stefan Berger / Burkhard Dietz / Helmut Müller-Enbergs (Hgg.): Das Ruhrgebiet im Fokus der Westarbeit der DDR (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen; Bd. 65), Essen: Klartext 2020, 210 S., 6 Tbl., ISBN 978-3-8375-2230-3, EUR 29,95
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Unter Westarbeit verstanden SED- und DDR-Führung alle offenen und verdeckten Aktivitäten ihrer Organisationen zur destabilisierenden politischen Einflussnahme auf die Bundesrepublik Deutschland. Den Begriff Deutschlandpolitik nutzte die SED nicht. Über die SED-Westarbeit war der westdeutsche Verfassungsschutz gut informiert. Innerhalb der DDR-Westarbeit hatte das proletarisch geprägte Ruhrgebiet neben den Bonner Regierungsinstitutionen und Parteienorganisationen den höchsten Stellenwert.
Der Sammelband präsentiert in zehn Beiträgen - die sich vor allem auf die 1950er und 1960er Jahre konzentrieren - ein breites Tableau der Zielobjekte der SED-Westarbeit in Nordrhein-Westfalen (NRW), speziell im Ruhrgebiet, wie klassische Spionagetätigkeit, Einflussnahme auf Forschungseinrichtungen, Gewerkschaften, Kirchen und politische Parteien. Außerdem werden zentrale DDR-Gremien, wie die Westarbeit der streng geheimen ZK-Abteilung "Verkehr", der FDJ und des Kulturbundes thematisiert.
Christoph Kleßmann führt in den Band ein. Er begründet die Erosion des kurz nach 1945 aufgeblühten kommunistischen Milieus im Ruhrgebiet - in den NRW-Landtagswahlen 1947 erzielte die KPD beachtliche 14 Prozent der Stimmen - mit der dogmatischen Ausrichtung der KPD an der SED. Der Beitrag von Alexander Röhlig untersucht Reichweite und Erfolg der DDR-Westarbeit am Beispiel der westdeutschen Industriegewerkschaft Bergbau und Energie. Er zeichnet die Kontaktpflege der Gewerkschaftsorganisationen in Ost und West nach. Sie blieb marginal und traf ab Ende der 1950er Jahre zunehmend auf westdeutsche Ablehnung, was jedoch nicht zum Strategiewechsel in der ostdeutschen Westarbeit führte. Michael Herms analysiert die Westarbeit der Jugendorganisation FDJ im Ruhrgebiet zwischen 1945 und 1956, die bis 1947 eine hohe Bindungskraft entfaltete. Aus dem Dilemma, gleichzeitig aus SED-Sicht unzureichende kommunistische Propaganda zu betreiben und andererseits offensiv für Entwicklungen in Ostdeutschland einzutreten (was den Mitgliederschwund beschleunigte), konnte sich die FDJ im Westen bis zu ihrem Verbot 1951 nicht befreien.
Holger Nehring zeigt die Bedeutung des Themas 'Frieden' für die DDR-Westarbeit. Der rabiate Antikommunismus in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre ließ der SED wenig Einflussmöglichkeiten auf die westdeutsche Friedensbewegung, ausgenommen die Bewegung "Kampf gegen den Atomtod" 1958. In den späten 1970er Jahren wurden aktive Kommunisten stärker in der "neuen" Friedensbewegung toleriert. Damit ging nicht gleichermaßen die Akzeptanz kommunistischer Positionen einher. Der Einfluss der DDR-Westarbeiter auf die bundesdeutsche Friedensbewegung blieb marginal. Die einzige Autorin des Bandes, Carola Spies, widmet sich der westdeutschen Variante des Demokratischen Kulturbundes Deutschlands. Sein Zentrum befand sich im Ruhrgebiet. Diese Organisation orientierte sich seit 1951 an ihrem DDR-Pendant, geriet in finanzielle Abhängigkeit, war aber dennoch kein einfacher Befehlsempfänger Ost-Berlins. Wilhelm Mensing beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Wirken der streng geheimen SED-ZK-Abteilung "Verkehr", die einer Geheimdienstorganisation glich und nichts mit dem Verkehrswesen zu tun hatte. Die geheimdienstlich-konspirativ agierende SED-Abteilung konzentrierte sich auf die Bereitstellung von Finanzmitteln für die KPD/DKP sowie auf Kurier- und Schleuserdienste über die deutsch-deutsche Grenze. Die Abteilung unterhielt im Ruhrgebiet Firmen zur Devisenbeschaffung für die DDR.
Michael Kubina bietet einen zusammenfassenden Überblick, jedoch ohne Bezug zum Ruhrgebiet, über die Kirchen im Westen als Objekte der Westarbeit von SED und MfS. Die DDR-Kirchenpolitik setzte seit den 1960er Jahren auf die Mobilisierung von Christen für die Anerkennung der DDR; die "progressiven Kräfte" in den Westkirchen sollten Unterstützung erfahren. Das MfS versuchte, nicht ohne Erfolg, die Kirchen in Ost- und Westdeutschland zu infiltrieren. Kubina verweist nachdrücklich auf Leerstellen in der Forschung zur SED- bzw. MfS-Westarbeit in den westdeutschen Kirchenverbänden und zur Unterbindung derer umfangreichen innerkirchlichen deutsch-deutschen Kontakte. Udo Baron rückt das gespaltene Verhältnis von SED und MfS bezüglich der Grünen in den 1980er Jahren in den Mittelpunkt seines Beitrags. Einerseits galten die Grünen als Bündnispartner, wenn es um die Anerkennung der Zweistaatlichkeit ging. Andererseits stießen ihre ökologischen Themen auf Unverständnis in Ost-Berlin. Ging es um Friedenspolitik, galten die Grünen in SED-Augen als "progressiv", nicht aber wenn gleichfalls die Rüstungspolitik der UdSSR kritisiert wurde. Es gelang zwar, die Grünen mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) zu infiltrieren, nicht aber die Beeinflussung ihrer Politik.
Im Beitrag über DDR-Spionage im Ruhrgebiet zählt Helmut Müller-Enbergs akribisch aus, wie viele operative Akteure die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des MfS - also der DDR-Auslandsnachrichtendienst - in Bochum, Dortmund und Essen im Jahr 1988 unterhielt: Es waren genau 46 "Vorgänge" (160 f.) Nahezu ein Viertel aller Quellenressourcen der HV A konzentrierten sich in Nordrhein-Westfalen, das Ruhrgebiet zählte damit zu den Zentren der nachrichtendienstlichen Arbeit des MfS. Der Autor untersucht die inhaltlichen Dimensionen und die Spannbreite der Westspionage von der Wissenschafts-, Technik- und Militärspionage über Beobachtungen der politischen Parteien bis hin zur Gegenspionage. In einer Fallstudie zu Bochum zeigt Rüdiger Sielaff, wie engmaschig und systematisch das Überwachungsnetz des MfS arbeitete. Oft ohne konkretes Verwendungsinteresse sammelte der DDR-Geheimdienst Informationen, um im Bedarfsfall darauf zurückgreifen zu können. Im Visier standen Bochumer Unternehmen, die Ruhr-Universität, Vereine und Verbände und Bochumer Bürger. Das MfS hörte Telefonate ab, kontrollierte die Post und bediente sich eingeschleuster oder bundesdeutscher IM.
Die Beiträge des Buches gehen auf eine Konferenz des Hauses der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum im Mai 2013 zurück. Die zeitliche Verzögerung ist ein Manko des Buches, weil neuere Literatur zum Thema in den Texten nicht berücksichtigt wurde. [1] Das trifft auch auf die Einleitung der Herausgeber zu. Ein zweiter Kritikpunkt gilt einer Reihe von Beiträgen, die auf älteren Monographien beruhen, worauf die Autoren selbst verweisen - z. B. Kleßmann (17, Anm. 1), Herms (39, Anm. 1), Mensing (103, Anm. 1), Kubina (115, Anm. 1) oder Baron (135, Anm. 1). Für Interessierte bietet der knapp 200 Seiten umfassende Band einen gut lesbaren und komprimierten Überblick zur DDR-Westarbeit mit Schwerpunkt Ruhrgebiet, für die Wissenschaft enthalten die meisten Beiträge jedoch nichts Neues.
Anmerkung:
[1] Heike Amos: Die SED-Deutschlandpolitik 1961 bis 1989. Ziele, Aktivitäten und Konflikte, Göttingen 2015; Jens Gieseke / Andrea Bahr: Die Staatssicherheit und die Grünen. Zwischen SED-Westpolitik und Ost-West-Kontakten, Berlin 2016.
Heike Amos