Catherine E. Clark: Paris and the Cliché of History. The City and Photographs, 1860-1970, Oxford: Oxford University Press 2018, XI + 310 S., 89 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-068164-7, GBP 47,99
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Das Cover bedient die bekannten Klischees, Nostalgiker der Belle Époque und die Erwartungshaltung des Rezensenten, wie ein warmer Schleier möge sich bei der Lektüre der Zauber einer Metropole entfalten, die immer auch ein Versprechen auf ein besseres, zumindest ein mondänes Leben war: der Duft von Kaffee und warmen Brotstangen vor aristokratischer Kulisse, die unverwechselbare Mischung aus Gauloises und Gainsbourg, der Dreiklang aus Vogue, Chanel und großer Liebe - mit seinem 'Baiser de l'hôtel de ville' (1950) hat Robert Doisneau dafür im kollektiven Gedächtnis die bis heute gültige Vorlage geliefert. [1] Marketingaffine Autorinnen haben dem Konzept jüngst einen erfolgreichen Relaunch beschert. [2] Die kühle Präzision und analytische Schärfe, die Catherine Clark in ihrer den Bildern von Paris gewidmeten Studie an den Tag legt, muss deshalb zunächst ernüchtern.
Clark, Frankreichspezialistin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), führt in ihrer umsichtig recherchierten Schrift, die sich als Beitrag zu einer Sozialgeschichte der Fotografie wie zur Stadt- und Urbanisierungsgeschichte gleichermaßen versteht und in den amerikanischen 'French Studies' viel Aufmerksamkeit erfahren hat, eingangs in das Bildgedächtnis einer Stadt ein, die jeder zu kennen glaubt, weil allen ihre Ansichten vertraut sind. Insbesondere den fotografischen Beständen der im vierten Arrondissement gelegenen Stadtbibliothek 'Bibliothèque Historique de la Ville de Paris', die in der öffentlichen Wahrnehmung heute vielfach im Schatten der thematisch sehr viel breiter angelegten Fotosammlung der Französischen Nationalbibliothek steht, widmet sie eingangs umfassend Raum. Fotografien analysiert Clark dabei nur zum einen in ihrer vorgeblichen Funktion als authentische Abbilder vergangener Zeiten; darüber hinaus fragt sie systematisch nach den Produktionsbedingungen und schließlich ihrem Ort im Archiv.
'How people learnt about Paris through images' lautet dabei eine Leitfrage ihrer ein ganzes Jahrhundert umspannenden Analyse (1860-1970). Ihren Ausgang nehmen die Überlegungen chronologisch in der weitläufig bekannten Umgestaltung der französischen Metropole durch den napoleonischen Stadtplaner Haussmann seit den 1850er Jahren, die bis heute die Geographie der Stadt maßgeblich prägt und ältere Ansichten vielfach überschrieben hat. Stadtplanung jedoch bedarf umsichtiger Dokumentation wie der visuellen Kommunikation gleichermaßen; die Experten der Ära Haussmann nutzten die vorliegenden Bilder und generierten zugleich neues Material. Sichtbar wird in diesem Kontext die öffentliche Hand als ein bedeutender Auftraggeber fotografischer Gebrauchskunst. Als eine Einführung in Theorie und Methode erweist sich insbesondere das zweite Kapitel, das die zwanziger Jahre kenntnisreich als einen fotohistorisch wie auch stadtgeschichtlich bedeutsamen Wendepunkt analysiert. Als 'the cutting edge of illustration' (65) war die Fotografie nunmehr etabliert und hatte damit ältere Praktiken visueller Gestaltung nicht nur in der Stadtplanung sukzessive ersetzt.
Vier Jahre deutscher Besatzung stehen im Mittelpunkt der dritten Fallstudie, und es ist nicht das geringste Verdienst von Clark, den Blick über die weitläufig bekannten Ikonen hinaus (und insbesondere die Bilder Robert Capas der Befreiung von Paris 1944) auf ein weniger bekanntes Repertoire an Amateurfotografien zu richten, die über den Alltag dieser Jahre wie seine Inszenierung informieren und den von Experten der Besatzungszeit umfassend erforschten 'années noires' eine weitere Facette hinzufügen. Besondere Aufmerksamkeit verdient das vierte Kapitel, das vordergründig die Berichterstattung zu den als 2000. Jahrestag der Stadt inszenierten Feierlichkeiten im Juli 1951 zum Inhalt hat, darüber hinaus jedoch weit mehr leistet, den fotohistorischen Blick nämlich auf die visuelle Inszenierung globaler Ambitionen im Mid-Century als eine mögliche Antwort auf die mit der Dekolonisierung vielfältig verflochtene Debatte über die ambivalente Rolle Frankreichs im Krieg.
Dass die städtebauliche Transformation von Paris in vielfacher Weise mit einer Geschichte der dokumentarischen Fotografie verbunden blieb, diskutiert Clark schließlich erneut im fünften und letzten Kapitel, dem eigentlichen Zentrum der vorliegenden Studie, das den in Aufwand, Durchführung und Gestaltung außergewöhnlichen Fotografiewettbewerb einer großen Buchhandelskette in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, der eine bislang kaum erschlossene Überlieferung und insgesamt geschätzte 100.000 Abzüge generierte: 'C'était Paris en 1970'. Es ist kein Zufall, vielmehr Anlass der genannten Ausschreibung gewesen, dass mit dem Abriss der Markthallen im historischen Zentrum der Stadt im folgenden Jahr ein Projekt zur Durchführung angestanden ist, das bis heute zu kontroversen Diskussionen Anlass bietet. Lediglich die Umgestaltung der vormals bukolisch anmutenden 'Place des Fêtes' [3] im 19. Arrondissement (Belleville) durch Jean Balladur wie auch die Neuordnung der nahe der Place d'Italie gelegenen Wohnviertel südlich der Seine, die als Nachverdichtung kaum angemessen zu beschreiben sind, zeichneten sich durch eine vergleichbare Rücksichtslosigkeit im Umgang mit dem historischen Bauerbe wie auch seinen Anwohnern aus. 'Amateur Photography and the Assassination of Paris' hat Clark ihre Ausführungen unter Rückgriff auf eine Formulierung des französischen Kollegen Louis Chevalier überschrieben und den Umbau zur autogerechten Stadt als einen weiteren Motor der beschriebenen Entwicklung betont: "The photo contest responded to a growing sense that the radical reconstruction of Paris in the 1950s and 1960s was speeding up time itself. (...) Cars took the place of fishermen, strollers, swimmers, and sunbathers along the river when the Seine expressways opened in 1966 and 1967." Es ist damit am Ende trotz der vielen Bilder, die auch Historikern der Alltags- und Sozialgeschichte vielfältige Bezüge eröffnen, kein leicht zugängliches Buch geworden; zu erklären aber vermag es die Beharrungskraft des alten Paris im visuellen Gedächtnis, das den vermeintlichen Glanz früherer Tage bewahrte und seinen Ausgang in der dichten fotografischen Erfassung einer expandierenden europäischen Metropole im 19. Jahrhundert nahm.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Nina Lager Vestberg: Robert Doisneau and the Making of a Universal Cliché, in: History of Photography 35,2 (2011), 157-165, DOI: 10.1080/03087298.2011.521329; sowie Marie de Thézy: La Photographie humaniste, 1930-1960. Histoire d'un mouvement en France, Paris 1992.
[2] Anne Berest / Audrey Diwan / Sophie Mas / Caroline de Maigret: How to be parisian wherever you are: Love, Style, and bad habits, New York 2014.
[3] Siehe dazu https://api-site.paris.fr/images/71919 [zuletzt eingesehen am 28.12.2020].
Claudia Moisel