Ulrike Kipman / Christoph Kühberger: Einsatz und Nutzung des Geschichtsschulbuches. Eine Large-Scale-Untersuchung bei Schülern und Lehrern, Heidelberg: Springer-Verlag 2019, VIII + 195 S., ISBN 978-3-658-24446-0, EUR 64,99
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In der geschichtsdidaktischen Forschung spielt das Schulbuch spätestens seit den 1970er Jahren eine zentrale Rolle. In der Regel unterscheidet man drei Forschungsrichtungen: die historische, die internationale und die - im engeren Sinne - didaktische Schulbuchforschung. Für die ersten beiden Forschungsrichtungen lässt sich seit längerem ein enormer Produktivitäts- und Innovationsschub verzeichnen. [1] Die geschichtsdidaktische Schulbuchforschung im engeren Sinne dagegen, die sich für Schulbücher primär als Medien historischen Lehrens und Lernens interessiert, ist trotz erheblicher Fortschritte in jüngster Zeit nach wie vor vergleichsweise schwach ausgeprägt. Ein besonders großes Desiderat besteht vor allem in der Untersuchung schulischer Rezeptions- und Verwendungsprozesse.
Genau auf dieses Desiderat konzentriert sich die "quantitative Large-Scale-Untersuchung" (33) von Ulrike Kipman und Christoph Kühberger, die im Kontext eines größeren, drittmittelgeförderten Forschungsprojekts entstanden ist, das neben standardisierten Befragungen von Lehrern und Schülern auch qualitative Zugänge und Unterrichtsbeobachtungen integriert (5-6). Im Zentrum der Studie stehen sechs Aspekte. Erstens geht es um Formen, Ziele und Frequenz des Schulbucheinsatzes, zweitens um seine lehrerseitige Relevanz für die Vorbereitung von Geschichtsunterricht, drittens um die Nutzung der in den verwendeten Schulbüchern vorhandenen Quellen, Darstellungen und Arbeitsaufgaben, viertens um die Wahrnehmung des Schulbuchs seitens der Schülerinnen und Schüler, fünftens um deren schulbuchbezogenes Geschichtsverständnis und sechstens um die Frage, ob das Geschichtsschulbuch in gedruckter Form trotz eines rasanten digitalen Wandels seinen traditionellen Status als "Leitmedium des Geschichtsunterrichts" [2] auch in Zukunft behaupten wird (13).
Das Sample der Studie, das die Verfasser als "Konvenienzsample" (45) charakterisieren, umfasst 1086 Schülerinnen und Schüler aus insgesamt 25 Schulen der Sekundarstufe I (Neue Mittelschulen und Gymnasien) in den Städten Graz, Salzburg und Wien sowie 277 Lehrpersonen (49). Ob dieses Sample Ergebnisse ermöglicht, die "durchaus repräsentativ für Österreich" (169) sind, müsste genauer diskutiert werden. Die Verfasser weisen allerdings selbst darauf hin, dass "die fokussierte Erhebung in Städten" (45) eine potenzielle Störvariable ist. Trotzdem sind die Befunde, die auf der Grundlage von weitgehend geschlossenen (insbesondere fünfstufige Likert-Skalen) Fragebögen im Umfang von 68 Items bei den Schülern und 131 Items bei den Lehrkräften erhoben wurden (37, 177-203), äußerst aufschlussreich.
Hinsichtlich der Frequenz der Schulbuchnutzung kommt die Untersuchung zu ähnlichen Ergebnissen, wie sie vor 15 Jahren bereits Bodo von Borries et al. in einer komplexen Pionierstudie vorgelegt haben. [3] Das Geschichtsschulbuch, so Kipman und Kühberger, nimmt nicht nur eine "Spitzenposition" im "Bereich der Unterrichtsvorbereitung" ein, sondern es erlebt auch im Unterricht selbst "einen ungebrochen hohen Einsatz". Dabei handelt es sich den Verfassern zufolge um einen fachspezifischen Befund, weil Schulbüchern etwa im Chemieunterricht nicht eine annähernd so große Bedeutung zukomme (169). Ein Vergleich der Zielsetzungen des Schulbucheinsatzes deutet darauf hin, dass inhaltsorientierte Formen dominieren, auch wenn die Relevanz fachspezifischer Kompetenzorientierung von einer Mehrheit der Lehrkräfte nicht explizit bestritten wird (170-171). Bemerkenswert sind neben zahlreichen anderen Ergebnissen, die hier nicht im Detail referiert werden können und die bei den Schülern beispielsweise sozio-ökonomisch bedingte, bei den Lehrern schulform-, alters- oder ausbildungsspezifische Befunddifferenzen betreffen, schließlich drei weitere Resultate. Erstens fällt auf, dass die sogenannten Autorentexte kaum hinterfragt und somit Geschichtsschulbücher gegen Kritik weitgehend "immunisiert" werden (68, 128-129, 172). Zweitens vertritt eine klare Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer die Auffassung, dass das Thema Schulbucharbeit in der Aus- und Weiterbildung eine größere Rolle spielen sollte (151-152). Und drittens gingen die Geschichtslehrkräfte zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahr 2016 offenbar "nicht davon aus, dass das Schulbuch in den nächsten 25 Jahren gänzlich von digitalen Medien verdrängt" (173) werde. Angesichts nach wie vor ungeklärter Effizienz- und Qualitätsfragen, die selbst das in Deutschland renommierte, aber manchmal wohl überschätzte mBook Geschichte betreffen [4], ist die ungebrochene Dominanz gedruckter Geschichtsschulbücher jedoch nicht automatisch ein Nachteil, auch wenn die Einschätzungen vor dem Hintergrund jüngster Pandemieerfahrungen heute vermutlich bereits andere sind als noch vor wenigen Jahren.
Obwohl die Ergebnisse der Untersuchung also nur eine historische Momentaufnahme darstellen, kann die Studie durch ihr differenziertes Erkenntnisinteresse, ihre methodische Transparenz und ihre klare Struktur durchaus überzeugen. Dass Befragungen immer nur begrenzte Aussagen über tatsächliche Unterrichtsrealitäten ermöglichen, ist den Verfassern dabei selbstverständlich bewusst. Daher problematisieren sie an mehreren Stellen des Buches (z.B. 170) völlig zu Recht, dass insbesondere Lehrkräfte, aber auch Schülerinnen und Schüler wohl nicht selten im Sinne sozialer Erwünschtheit antworten. Komplexere Mixed-Methods-Designs und nicht zuletzt Phänomen- sowie Interventionsstudien bleiben - neben dringend notwendigen Untersuchungen zur Konzeption und narrativen Struktur von Geschichtsschulbüchern - also auch in Zukunft ein Desiderat.
Das Einzige, was man sich als Leser dieser wichtigen Studie gewünscht hätte, ist ein besseres Lektorat. Das betrifft einerseits unterhaltsame Flüchtigkeitsfehler (z.B. 39: "Standradfehler"), andererseits teilweise fehlende Literaturangaben (z.B. 25) und an mindestens einer Stelle auch Inkonsistenzen bei der Itemformulierung (vgl. 90, LFB 18.1 vs. 201). Aber diese Kritik kann und soll die Bedeutung dieses ansonsten gut lesbaren Buches in keiner Weise schmälern.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700-1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte. 3 Bde., Berlin 2011 (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 8).
[2] Vgl. Jörn Rüsen: Das ideale Schulbuch. Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts, in: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992), 237-250.
[3] Bodo von Borries / Claudia Fischer / Sibylla Leutner-Ramme / Johannes Meyer-Hamme: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002, Neuried 2005 (= Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik; Bd. 9).
[4] Vgl. Holger Thünemann: Zwischen analogen Traditionen und digitalem Wandel. Lernen und Lehren mit Geschichtsschulbüchern im 21. Jahrhundert, in: Christoph Kühberger / Roland Bernhard / Christoph Bramann (Hgg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren - Lernen - Forschen, Münster / New York 2019 (= Salzburger Beiträge zur Lehrer/innen/bildung; Bd. 6), 81-96, hier 92.
Holger Thünemann