Matthias Müller / Sascha Winter (Hgg.): Die Stadt im Schatten des Hofes? Bürgerlich-kommunale Repräsentation in Residenzstädten des Spätmittelalters un der Frühen Neuzeit (= Residenzenforschung. Neue Folge: Stadt und Hof; Bd. 6), Ostfildern: Thorbecke 2020, 420 S., 126 Farbabb., ISBN 978-3-7995-4538-9, EUR 64,00
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Der Sammelband fasst zwölf Beiträge des 2. Symposiums des Projekts "Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)" der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen zusammen, das vom 14.-16. September 2017 in Mainz durchgeführt wurde. Das bis 2026 laufende kulturwissenschaftliche Langzeitforschungsprojekt will die Interaktion zwischen Bürgertum und Hofgesellschaft im städtischen Raum aus sozial-, wirtschafts-, kultur- und kunsthistorischer Perspektive untersuchen, um die Stadt- und Urbanisierungsgeschichte der Vormoderne in erheblichem Umfang auf neue Grundlagen zu stellen. [1] Der vorliegende Sammelband legt einen eindeutigen Schwerpunkt auf die im weiteren Sinne kunsthistorischen Aspekte des Themas und flankiert damit die im Mittelpunkt des Projekts stehende Herausgabe eines umfassenden analytisch-systematischen Handbuchs zur Geschichte der Residenzstädte im Alten Reich.
In seiner Einführung verweist Matthias Müller darauf, dass der tradierten Vorstellung einer Dichotomie von fürstlicher Residenz und bürgerlicher Stadt zahlreiche Beispiele des ständeübergreifenden Interagierens entgegengestellt werden können. Das gelte nicht nur für die großen, sondern insbesondere auch für die kleinen und mittleren Residenzstädte, denen sich das Symposium primär widmete. Die Gliederung des Sammelbandes orientiert sich an den verschiedenen Formen dieser Interaktion. Den größten Raum nimmt der erste Abschnitt "Stadtgestaltung und Raumbildung" ein. Neben Gartenkunst und Architektur werden insbesondere Raumgestaltung und Städteplanung in den Blick genommen. Besonders überzeugend gelingt es Insa Christiane Hennen, das Zusammenwirken von Landesherr und Bürgerschaft am Beispiel der Modernisierung Wittenbergs durch die sächsischen Kurfürsten zu verdeutlichen. In ihrem Beitrag "Residenz - Universitätsstadt - Modell. Das Stadtbild Wittenbergs im 16. Jahrhundert" stellt sie sowohl die Beteiligung bürgerlicher Fachleute an den gravierenden Umgestaltungen der Stadt heraus wie auch die Adaption herrschaftlicher Bauformen, etwa hoch aufragender Wendelsteine oder Standerker bei Bürgerhäusern. Als gutes Beispiel für das produktive Zusammenwirken von Landesfürst, Bürgerschaft und neu gegründeter Universität verweist sie auf den Neubau der Lateinschule, der als "kurfürstlich-bürgerliches Gemeinschaftsprojekt" (67) bezeichnet wird.
Zu interessanten Erkenntnissen über das Verhältnis von Stadt und Hof gelangt Sebastian Fitzner, der im zweiten Abschnitt "Performanz und Medialität" die Grundsteinlegungen von Sakralbauten in Berlin (1695/1747) und Dresden (1729/1765) vergleicht und als symbolische Aushandlungsprozesse deutet. Dabei erschließt er durch die Berücksichtigung der zeitgenössischen Beschreibungen der Festlichkeiten und der medialen Repräsentation in Stichen und Erinnerungsmedaillen bislang in der Residenzforschung wenig genutzte Quellen. Die im Vergleich der Ereignisse in den beiden Residenzstädten erkennbaren Unterschiede sind insbesondere im Hinblick auf das im Zentrum des Interesses stehende Verhältnis zwischen Hof und Stadt aufschlussreich. Während die Bürgerinnen und Bürger Berlins eher als Staffage für ein vor allem zur medialen Prachtentfaltung des Kurfürsten bzw. Königs genutzten Zeremonie erscheinen, konnte sich die Dresdner Bürgerschaft durch feierliche Umzüge sehr viel selbstbewusster neben dem Fürsten in der Stadt präsentieren. Die unterschiedliche Beteiligung an den Zeremonien wie auch die Varianten in der Gestaltung der Erinnerungsmedaillen geben gleichzeitig wertvolle Hinweise auf die Stellung von Bevölkerungsteilen mit einer vom Hof abweichenden konfessionellen Ausrichtung. Für beide Residenzorte können die ritualisierten Grundsteinlegungen auch als verbindende Akte aller beteiligten Akteure und damit als Stabilität und Kohäsion stiftende Ereignisse gedeutet werden.
Berit Wagner hinterfragt in ihrem zum dritten Abschnitt "Sammlung und Kunsthandel" gehörenden Beitrag "Bürgerlicher Geschmack und höfische Sammlungen" bewusst das Narrativ vom Bürger als Nachahmer höfischer Sammelpraktiken (240). Anhand mehrerer Einzelbeispiele erfolgreicher bürgerlicher Agenten und Kunsthändler, die nicht im Dienste der Fürsten stehend auf Grund ihrer Netzwerke und ihrer Expertise höfische Sammlungen und sogar das höfische Zeremoniell beeinflussten, kann sie die Allgemeingültigkeit des Narrativs überzeugend relativieren.
Der vierten Abteilung "Materielle Kultur und Interaktion" ist der Aufsatz "Quid pro Quo?!" von Ines Elsner zugeordnet. Darin analysiert sie die städtische Huldigungspraxis gegenüber den Welfen des Neuen Hauses Lüneburg 1520-1706, womit sie über den engen Rahmen der unmittelbareren Interaktion zwischen Fürst und Bürgerschaft in einer Residenzstadt etwas hinausgeht. Zum einen kommen nicht nur welfische Residenzstädte in den Blick, zum anderen sind die geschilderten Phänomene auch im Verhältnis von Reichsstädten zu den jeweils neu gewählten Kaisern zu beobachten. Die Auswertung der 253 im Untersuchungszeitraum archivalisch dokumentierten Huldigungsakte bleibt gleichwohl interessant, zeigt sich doch "eine Massierung im Lüneburgischen" (307). Als reichste Stadt des Herrschaftsraumes verfügte sie über die notwendigen Mittel, sich durch wertvolle Huldigungsgeschenke bei einem Herrscherwechsel die wichtigen städtischen Privilegien bestätigen zu lassen. Auch wenn die Präsente der kleineren Landstädte bescheidener ausfielen, war die Motivation dieselbe wie die Lüneburgs oder Braunschweigs. Man wollte den neuen Herrscher gewogen stimmen.
Die hier aus der Gesamtheit des Aufsatzsammlung herausgegriffenen Beiträge zeigen, dass der von den Organisatoren des Symposiums gewählte Fokus auf die Interaktion zwischen Hof und Stadt ein in vielfältiger Weise ertragreicher Ansatz ist, der neue Erkenntnisse erbrachte und weitere verspricht. Die als umfangreicher Appendix beigegebenen Abbildungen illustrieren die einzelnen Beiträge auf qualitativ hohem Niveau. Als hilfreich empfunden wird die abschließende Vorstellung der Autorinnen, Autoren und Herausgeber. Sie geht über die Nennung des Namens und der aktuellen Position hinaus, beschreibt wesentliche Stationen der jeweiligen wissenschaftlichen Vita und erlaubt dadurch ein besseres Verständnis der einzelnen Forschungsansätze. Lediglich die Hoffnung des Rezensenten auf eine knappe Zusammenfassung der Erträge des Symposiums, die sicher größer waren als die Summe aller Teile, bleibt unerfüllt.
Anmerkung:
[1] https://www.kunstgeschichte.uni-mainz.de/akademieprojekt-residenzstaedte-id-1924/ (zuletzt aufgerufen 20.12.2020).
Peer Frieß