Judith Werner: Papsturkunden vom 9. bis ins 11. Jahrhundert. Untersuchungen zum Empfängereinfluss auf die äußere Urkundengestalt (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge; Bd. 42), Berlin: De Gruyter 2017, 562 S., eine Farb-, 116 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-051666-1, EUR 99,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Steven A. Schoenig: Bonds of Wool. The Pallium and Papal Power in the Middle Ages, Washington, DC: The Catholic University of America Press 2016
Joëlle Rollo-Koster: Avignon and its Papacy (1309-1417). Popes, Institutions, and Society, Lanham: Rowman & Littlefield 2015
Guido Braun: Imagines imperii. Die Wahrnehmung des Reiches und der Deutschen durch die römische Kurie im Reformationsjahrhundert (1523-1585), Münster: Aschendorff 2014
Jochen Johrendt / Harald Müller (Hgg.): Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Mittelalter, Berlin: De Gruyter 2012
Clemens Gantner: Freunde Roms und Völker der Finsternis. Die päpstliche Konstruktion von Anderen im 8. und 9. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2014
Als einen Multiplikator der Ästhetiken von erheblicher Reichweite charakterisierte der Marburger Historiker Peter Rück im Jahr 2000 die mittelalterliche Papsturkunde. [1] Auf diesen Gedanken lässt sich die Fragestellung des vorliegenden Buches konzise zurückführen. Es basiert auf der 2015 abgeschlossenen Erlanger Dissertation der Verfasserin, die mit ihrem Titel "Aussehen - Ausstrahlung - Autorität. Empfängereinfluss und Autoritätszuschreibung auf Papsturkunden des 9.-11. Jahrhunderts" noch deutlicher machte, worum es geht: um Gestaltungsspielräume im Urkundenlayout eines als seriell und formal verbindlich eingestuften Kanzleibetriebs einerseits und die sich in den Varianten spiegelnden unterschiedlichen Vorstellungen von einem bereits durch seine Optik Bedeutung beanspruchenden Dokument andererseits; das erste dürfte weit präziser nachweisbar sein als das zweite. Insgesamt fügt sich die Studie damit in den Trend, für das frühere Mittelalter in personellen und formalen Fragen einen gegenüber der älteren Forschung weit offeneren Kanzleibegriff zu verwenden [2] und den Einfluss der Empfänger nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf Form und Sprache zu betonen. In diesem Punkt knüpft Judith Werner neben den Perspektiven der Marburger Schule um Peter Rück ganz gezielt an Überlegungen und Ergebnisse von Hans-Henning Kortüm und Jochen Johrendt an. [3]
Auf eine knappe Einleitung folgt die Erläuterung von Fragestellung und Methode, welche die grafischen Symbole und das gesamte Layout der Urkunden als Repräsentanten oder zumindest als Markierungen von Autoritätsbehauptungen des Ausstellers betrachtet. Diese waren in der Gestaltung grundsätzlich in gewissem Maße offen für die Einflussnahme der Begünstigten. Um dies plausibel zu machen, führt die Verfasserin die höhere Gebühr an, die Petenten offenbar zu zahlen bereit waren, um eine ihren Wünschen entsprechende Ausfertigung zu erhalten. Man würde sich wünschen, dass diese Korrelation oder gar deren grundlegender Aushandlungsprozess ebenso klar in den zeitgenössischen Quellen belegt wäre wie sie als Deutungsmuster sinnvoll erscheint. Judith Werner wählt für ihre exemplarisch-vergleichende Untersuchung Regionen aus, in denen sich Originale päpstlicher Urkunden in größerer Dichte erhalten haben. Dies sind die Kirchenprovinzen Mainz, Köln und Trier im Reich, Reims und Lyon in Frankreich, dazu Katalonien, Etrurien und Umbrien. Damit wird eine europäische Perspektive gewährleistet, innerhalb derer sich die konkrete Analysearbeit aber auf regionale Bezüge konzentriert. Von 202 insgesamt erhaltenen Originalprivilegien aus dem Zeitraum bis 1085 entfallen 104 auf die genannten Regionen, 204 nur noch kopial überlieferte Stücke treten dort hinzu. Die Konzentration auf die Privilegien ist allein schon mit Blick auf deren aufwändige Gestaltung gut begründet und sie liefert mit der Bandbreite der Rechtsinhalte von Besitzbestätigungen über Palliumsverleihungen bis hin zu Schutz- und Exemtionsprivilegien genau jene urkundlich fixierten Akte, die einen Eingriff des fernen römischen Bischofs vor Ort auch besonders glaubhaft in Szene setzen mussten.
Im Detail werden Material und Flächenaufteilung (Kapitel 3), Schrift (Kapitel 4) und grafische Symbole (Kapitel 5) untersucht, wobei ein Vergleich schon dadurch erschwert wird, dass im Verlauf des Untersuchungszeitraums in allen drei Kategorien massive Gestaltungswechsel zu beobachten sind - vom Papyrus zum Pergament, von der römischen Kuriale zur Minuskel, vom ausgeschriebenen Segenswunsch zum Benevalete und zur Rota. Fragen der Traditionalität spielten in die Vorstellung von einer gelungenen Papsturkunde also mit hinein. Frau Werner durchmustert für jedes Kapitel ihren Fundus akribisch und untermauert ihre Beobachtungen mit Serien von Diagrammen, Abbildungen und Tabellen. Das unterstreicht die empirische Grundlage. Im Verbund mit der regionalen Anlage der Ergebnispräsentation in diesen Abschnitten wird der Leser das Buch hier vor allem punktuell zum Nachschlagen nutzen und für die Synthesen auf das ausführliche Kapitel 6 zurückgreifen. Auch dort bleibt der Duktus kleinschrittig regional, die Beobachtungen werden aber deutlich in zwei Themenbereichen gebündelt: die Gestaltung der Urkunden für (und Mitgestaltung durch?) die Empfängerinstitutionen einerseits und die Mittel der Autoritätszuschreibung andererseits. Letzteres erfolgt ebenfalls regional differenziert und liefert interessante Einblicke. Großzügige Pergamente hielt man fast überall für ein Merkmal der Authentizität. In Lothringen maß man offenbar der sauber ausgeführten (von Leo IX. als ehemaligem Bischof von Toul in die Urkunden eingeführten) Rota große Bedeutung bei. Die Auszeichnungsschriften spielten eine erkennbare Rolle bei der Hervorhebung der Position des Urkundenausstellers. In Italien scheint zudem eine etwas stärkere Bindung an traditionelle Formen vorgeherrscht zu haben, was freilich auch an einer engen Beziehung zu den original erhaltenen Vorurkunden liegen mag. Die Beobachtungen bleiben vielfältig und Judith Werner tut gut daran, diese in ihrer Synthese nur sehr behutsam in einen überregionalen Zusammenhang zu bringen.
Dank der breit angelegten und sorgfältigen Untersuchung lässt sich nun ein Phänomen erkennen, das man als regionale Konformierung bezeichnen könnte. Innerhalb regional begrenzter Empfängerkreise ähnelten sich die Vorstellungen, wie eine Papsturkunde auszusehen hatte, und es ist zu vermuten, dass man auf diese Gestaltung nach Möglichkeit Einfluss nahm, um die Akzeptanz der Stücke durch die Betrachter in der Region zu stärken - weit jenseits der Idee einer diplomatischen Kritik. Sieben Anhänge erleichtern es, die Detailbeobachtungen zu den äußeren Elementen und den Invokationsformeln mit wenigen Blicken nachzuvollziehen. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis komplettiert den Band, Register der Urkunden, Orts- und Personennamen führen durchweg zuverlässig zu den Stellen vertiefter Behandlung. Der Rezensent hätte sich über eine Präzisierung des im Buch prominenten Begriffs der "Autorität" gefreut. Er wird hier wie in vielen Studien recht unscharf als abgeschwächte, unspezifische Form von Macht des römischen Bischofs insgesamt benutzt, obwohl es zunächst enger um die Glaubwürdigkeit der in seinem Namen ausgestellten Urkunden geht. Inwiefern deren Gestaltung und die Vorstellungen der Empfänger diesbezüglich auch auf das Amt als solches wirkte, wird schwierig zu klären sein.
Dessen ungeachtet gelingt es der Verfasserin, komplementär zu Kortüm und Johrendt den Empfängereinfluss auf die Ausfertigung einer Papsturkunde auch im Bereich ihrer äußeren Gestaltung nachvollziehbar herauszuarbeiten. Anders als bei sprachlichen Elementen und rechtsrelevanten Formeln wird aber der Grad dieser Einflussnahme und deren Intentionalität kaum präzise zu ermessen bleiben. Die Tatsache, dass man für die äußeren Merkmale der Papsturkunde erst im Laufe des 12. Jahrhunderts zu stabilen Formen fand, lässt die vorausgehenden Zeiten offener erscheinen für Variationen, sie mindert aber auch die Chance, die Veranlasser derartiger Modifikationen zu identifizieren.
Anmerkungen:
[1] Peter Rück: Die hochmittelalterliche Papsturkunde als Medium zeitgenössischer Ästhetik, in: Arbeiten aus dem Marburger Hilfswissenschaftlichen Institut, hgg. von Erika Eisenlohr / Peter Worm, Marburg 2000, 3-29.
[2] Vgl. für die Herrscherkanzlei Wolfgang Huschner: Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.-11. Jahrhundert), 3 Bde., Hannover 2003.
[3] Hans-Henning Kortüm: Zur päpstlichen Urkundensprache im Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896-1046, Sigmaringen 1995; Frank Michael Bischoff: Urkundenformate im Mittelalter. Größe, Format und Proportionen von Papsturkunden in Zeiten expandierender Schriftlichkeit (11.-13. Jahrhundert), Marburg 1996; Jochen Johrendt: Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden 896-1047, Hannover 2004.
Harald Müller