Daniel Niemetz: Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990. Mit ausgewählten Dokumenten, Berlin: Ch. Links Verlag 2020, VIII + 250 S., ISBN 978-3-96289-107-7, EUR 35,00
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Die Jubiläen des Mauerfalls von 1989 und der deutschen Einheit von 1990 bilden seit zwei Jahrzehnten fast schon traditionsgemäß den Anlass zur Veröffentlichung von Monographien und Sammelbänden zu diesem Themenkomplex. Zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit hat Daniel Niemetz nun ein Buch vorgelegt, das sich mit der Rolle des Militär- und Sicherheitsapparates in der Endphase der DDR beschäftigt. Der Band geht vor allem zwei Fragen nach: Welche Rolle spielten die bewaffneten Organe der DDR während der friedlichen Revolution und warum verschwanden sie nach dem Ende des SED-Regimes binnen weniger Monate so sang- und klanglos? Wie Daniel Niemetz in seinem Einleitungskapitel mit Blick auf den Forschungsstand verdeutlicht, werden diese Fragen aber nicht zum ersten Mal diskutiert. Bereits 2014 hat Rüdiger Wenzke einen Sammelband "Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90" vorgelegt. [1] Gleichwohl fehlt bislang eine Gesamtdarstellung zum Thema. Diese Lücke will Niemetz mit dem nun vorgelegten Buch schließen.
Niemetz' Darstellung gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst betrachtet er den Ausbau des Militär- und Sicherheitsapparates nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Hervorzuheben ist dabei, dass die für den Aufbau von Kampfgruppen und Bereitschaftspolizei zunächst prägende Fixierung auf den Einsatz im Inneren nach dem Mauerbau 1961 und der Konsolidierung des SED-Regimes sukzessive relativiert wurde. Mit nachhaltigen Folgen für Ausbildungsprofil und Selbstverständnis wurden beide Organe nun in das "System der Landesverteidigung" eingebunden und mit Aufgaben der Territorialverteidigung betraut. Anschließend untersucht der Autor die Lage der bewaffneten Organe am Vorabend der friedlichen Revolution. Niemetz schildert anschaulich die sich seit Mitte der 1980er Jahre sukzessive kumulierende Struktur- und Motivationskrise. Nicht nur wurde die Rekrutierung von Längerdienenden und Berufskadern immer schwieriger. Zusätzlich führten auch die permanenten Einsätze in der Volkswirtschaft zu wachsenden Zweifeln sowohl am Wahrheitsgehalt der offiziellen Erfolgsmeldungen als auch an der Notwendigkeit der mit manchen Härten einhergehenden ständigen Gefechtsbereitschaft. Der Einsatz von Soldaten und Bereitschaftspolizisten als billige Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft blieb darüber hinaus nicht ohne Folgen für den Ausbildungsstand der Truppe. Das machte sich insbesondere bei der Bereitschaftspolizei bemerkbar, die überdies ihr Aufgabenprofil Ende der 1980er Jahre wieder stärker auf polizeiliche Belange verlagern sollte. Die Tatsache, dass der Großteil des Personals durch 18 Monate dienende Wehrpflichtige gestellt wurde, hatte negative Folgen für die polizeiliche Qualifikation.
Bei den Kampfgruppen sorgte die 1988 beschlossene Rückkehr von der Landesverteidigung zu quasi-polizeilichen Aufgaben im Innern für beträchtliche Unruhe. Als Anfang 1989 die neue Doktrin implementiert werden sollte, kam es in den Einheiten zu massiven Diskussionen um Aufgaben und Selbstverständnis der Kampfgruppen. Dabei ging es vor allem um die rechtlichen Grundlagen eines etwaigen Einsatzes in Zivil. Einzelne lehnten aber bereits zu diesem Zeitpunkt den Einsatz als "Knüppelgarde" ab und verließen die Kampfgruppen (46). Daraufhin zog das Ministerium des Innern die umstrittene Dienstvorschrift "Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen" zunächst wieder zurück. Im Herbst 1989 traten die bislang schleichenden Erosionserscheinungen der Staatsmacht dann offen zutage. Wie Niemetz eindrucksvoll schildert, zeigten sich Polizei und Kampfgruppen angesichts des Protests der Bevölkerung nicht nur erkennbar überfordert. Das anfangs gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demonstranten stand offensichtlich auch im Widerspruch zum Selbstverständnis gerade der wehrpflichtigen Bereitschaftspolizisten, aber auch der Angehörigen der Kampfgruppen, die weitere derartige Einsätze offen ablehnten, zum Teil Befehle verweigerten oder einfach nicht zum Dienst erschienen.
Ähnlich sah es bei der Nationalen Volksarmee (NVA) aus, wo die Legalität eines Einsatzes im Innern selbst von zahlreichen Berufssoldaten angezweifelt wurde. Gleichwohl stellte die NVA in Dresden, Leipzig und Berlin eine Reihe von Einsatzhundertschaften bereit. Aber auch in diesem Fall konnte sich die SED-Führung des unbedingten Gehorsams ihrer bewaffneten Organe nicht mehr sicher sein. Verunsicherung und Sprachlosigkeit breiteten sich von der Staats- und Parteiführung auf die nachgeordneten Führungsebenen aus. Massive Frustration und Vertrauensverlust in der Truppe waren die Folgen. Ihren Höhepunkt erreichte die Führungskrise am 9. und 10. November 1989. Die Führung von NVA und Grenztruppen wurden von der neuen Reiseregelung und der sich anschließenden chaotischen Grenzöffnung völlig unvorbereitet überrascht und gleichsam paralysiert. Wie der Verfasser am Beispiel der Alarmierung der 1. mot. Schützendivision schildert, versagte die ansonsten ausgeklügelte Befehlskette weitgehend. Der am 10. November durch den Chef des Hauptstabes gegebene und telefonisch von einer Hierarchieebene zur anderen weitergegebene Befehl, die Division in erhöhte Gefechtsbereitschaft zu versetzen und ohne schwere Technik zur Sicherung der von feiernden Menschen besetzten Grenze in Berlin einzusetzen, gelangte nur unvollständig zu den betroffenen Truppenteilen. Am Ende wurden im Artillerieregiment 1 in Lehnitz auch die für Grenzsicherungsaufgaben erkennbar ungeeigneten 152-mm-Selbstfahrlafetten 2S3 aufmunitioniert. Die allgemeine Führungskrise fand somit ihren Ausdruck darin, dass die Spitzenmilitärs der DDR in einem der entscheidenden Momente der friedlichen Revolution "stille Post" spielten (123 f.).
Abschließend betrachtet Niemetz noch den bis zur deutschen Einheit andauernden Umbau- und Auflösungsprozess des Militär- und Sicherheitsapparates der DDR. Die eigentliche Darstellung wird außerdem durch einen 15 faksimilierte Dokumente enthaltenden 70-seitigen Anhang mit Stimmungs- und Meinungsbildern sowie Einsatz- und Lageberichten sinnvoll ergänzt. Insgesamt liegt eine inhaltlich überzeugende, konzise und sehr gut lesbare Überblicksdarstellung zum gewählten Thema vor. Wirklich neue Erkenntnisse bietet die Studie jedoch nur punktuell. Dem in der Einleitung formulierten Anspruch einer umfassenden Gesamtdarstellung vermag sie allerdings schon aufgrund ihres sehr überschaubaren Umfangs von knapp 160 Seiten (ohne Dokumentenanhang) nicht gerecht zu werden.
Anmerkung:
[1] Rüdiger Wenzke (Hg.): Damit hatten wir die Initiative verloren. Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90, Berlin 2014.
Christian Th. Müller