Claudia Weber: Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München: C.H.Beck 2019, 276 S., ISBN 978-3-406-73531-8, EUR 26,95
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Lew Besymenski: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren. Aus dem Russischen von Hilde und Helmut Ettinger, Berlin: Aufbau-Verlag 2002
Jan Lipinsky: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Lars Lüdicke: Constantin von Neurath. Eine politische Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014
Kein Abkommen übte einen so großen Einfluss auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs aus wie der Hitler-Stalin-Pakt. Die diesbezügliche Historiographie hat einen langen Weg hinter sich, wobei eine der wichtigsten Etappen die Öffnung der Archive in Russland in den 1990er Jahren war. Anhand neu erschlossener Dokumente lassen sich die sowjetisch-deutschen Beziehungen zwischen 1933 und 1941 von beiden Seiten untersuchen. Leider haben längst nicht alle Historiker von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht - auch Claudia Weber nicht, ihres Zeichens Professorin an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder.
Die dokumentarische Basis des Bandes ist ausgesprochen dünn, selbst die Auswertung deutscher Archive beschränkt sich auf wenige Bestände zur Umsiedlungspolitik und zu einigen Aspekten der Tätigkeit der deutsch-sowjetischen Kommission im besetzten Polen. Russische Archive wurden erst gar nicht herangezogen, veröffentlichte Dokumente, vor allem sowjetische, in der Regel aus zweiter Hand zitiert. Memoirenliteratur verwendet Weber unkritisch und ohne Vergleich mit anderen Quellen.
Das Buch besteht aus drei Teilen: Fast die Hälfte ist der Vorgeschichte der deutsch-sowjetischen Vereinbarungen vom 23. August und 28. September 1939 bzw. ihrer beginnenden Umsetzung im Herbst 1939 gewidmet (Kap. 1-3). Der zweite Teil befasst sich mit der Zusammenarbeit im Rahmen der Umsiedlungspolitik im geteilten Polen (Kap. 4). Der dritte Teil schließlich enthält alle übrigen Aspekte der bilateralen Beziehungen bis zum 22. Juni 1941 (Kap. 5-7).
Schon dieser kurze Überblick zeigt, dass das Buch nicht hält, was der Untertitel verspricht; zu groß ist die Diskrepanz zwischen dem hier formulierten Anspruch und der von thematisch-methodischen Engführungen geprägten Wirklichkeit. So bleiben die zentralen Fragen offen: Warum war der Pakt Stalins mit Hitler möglich? Gab es eine Alternative dazu? Gingen Deutschland und die Sowjetunion tatsächlich ein Bündnis ein oder handelte es sich lediglich um eine Übereinkunft zweier Kriegsparteien, die ihre eigenen Ziele verfolgten? Welche Folgen hatte die Zusammenarbeit zwischen Moskau und Berlin in der Anfangsphase des Kriegs für die Staaten und Völker Europas? Und schließlich: Was war das Ergebnis des beinahe zweijährigen Nullsummenspiels zweier unversöhnlicher Antagonisten auf der internationalen Bühne?
Ich gehe hier lediglich auf einige Aspekte der Quellenarbeit sowie auf die konzeptionellen Leitlinien und Schlussfolgerungen des Buchs ein. Bei der Untersuchung des Wegs zum Vertragsabschluss hebt Weber verschiedene Meilensteine hervor, unter anderem die dokumentarisch weder direkt noch indirekt belegte Vereinbarung vom Oktober 1938 zwischen Volkskommissar Maxim Litwinow und Botschafter Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg über die Einstellung direkter Angriffe auf beide Staatsoberhäupter in Presse und Rundfunk (39) oder Stalins Rede auf dem 18. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im März 1939. Laut Weber wurde diese "Kastanienrede" in Berlin als Gesprächsbereitschaft verstanden (52). Fakten, die diese Schlussfolgerung untermauern würden, nennt die Autorin nicht. Die deutschen Dokumente liefern auch keinerlei Beweise für ihre Richtigkeit, da ein politisches Abkommen mit der UdSSR im Frühjahr 1939 offensichtlich nicht zu Hitlers Plänen gehörte.
Es ist nicht meine Aufgabe, aufzulisten, was in dem Buch hätte gesagt werden sollen, aber nicht gesagt wird. Erwähnt werden muss aber die Tendenz der Autorin, Tatsachen zu verzerren, um ein bereits feststehendes Deutungsmuster zu stützen. Ich führe hier nur einige Beispiele an: In ihrer Interpretation der Unterredung zwischen dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Ernst von Weizsäcker und dem zeitweiligen Geschäftsträger Georgi Astachow am 30. Mai 1939 behauptet die Autorin, der deutsche Diplomat habe erklärt, Deutschland sei bereit, einen politischen Kompromiss zu finden, und "gewillt, zwischen der ideologischen Feindschaft, den 'innenpolitischen Maximen' und der 'außenpolitischen Einstellung' eine 'sehr reinliche Scheidung' zu vollziehen" (61). Laut von Weizsäckers Aufzeichnung war es jedoch nicht er, sondern der sowjetische Diplomat, der von der Möglichkeit gesprochen hatte, Ideologie und zwischenstaatliche Beziehungen zu trennen [1]. Und kann man anhand dieser Aufzeichnung auf Informationen schließen, die den Ton der Rede Wjatscheslaw Molotows über Deutschland auf der Sitzung des Obersten Sowjets beeinflussten? Natürlich nicht, denn es war nicht von Weizsäcker, von dem Molotow seine Informationen über das Gespräch erhielt, sondern Astachow, dessen Informationen die Autorin entweder nicht kennt oder ihnen keine Beachtung schenkt.
Der ebenso zweifelhafte wie tendenziöse Umgang Webers mit den Quellen zeigt sich auch an vielen anderen Stellen des Buchs. So führt die Autorin ein Zitat aus Hitlers Rede vom 22. August 1939 an und datiert es auf den 22. Oktober (101), obwohl aus dem Inhalt klar hervorgeht, dass es sich auf die Zeit vor dem Kriegsbeginn bezieht [2]. Ein weiteres Beispiel: Zur Untermauerung ihrer These, dass nicht nur Hitler, sondern auch Stalin nach dem Polenfeldzug an einem Frieden mit den Westmächten interessiert gewesen sei, zitiert Weber einen Eintrag aus dem Tagebuch des sowjetischen Botschafters in London, Iwan Maiski, in dem dieser angeblich die Stimmung in der sowjetischen Führung Anfang Oktober 1939 beschrieb. Dabei verdreht sie die Fakten. Maiski verglich die Situation in Moskau und London, während Weber Parallelen zwischen Moskau und Berlin zieht. Bei diesem Vergleich verzerrt sie sowohl die dem Zitat vorausgehenden Worte als auch das Zitat selbst, indem sie den Anfang weglässt. Sie schreibt: "In Moskau herrschte, so Iwan Maiski, eine ganz ähnliche Stimmung: 'Man rechnet dort nicht mit Krieg, sondern zählt auf ein neues München', mit dem Stalin hochzufrieden gewesen wäre." (98) Bei Maiski lesen wir hingegen: "In Moskau herrscht eindeutig eine ganz andere Stimmung vor: Man rechnet dort nicht mit Krieg, sondern zählt auf ein neues München." [3] Hier stellt sich die Frage, was das zu bedeuten hat. Immerhin war der Krieg schon mehr als einen Monat im Gange. Des Rätsels Lösung ist ganz einfach - Maiski machte diesen Eintrag nicht Anfang Oktober 1939, sondern am 29. August, was der Autorin unmöglich entgangen sein kann.
Nicht minder unzulässige Freiheiten im Umgang mit den Fakten erlaubt sich Weber bei ihrer Interpretation des Informationsgrads der sowjetischen Führung über den Plan "Barbarossa": "Noch während Generäle die Warnung lasen, dass andernfalls die Gefahr bestünde, 'durch ein Bekanntwerden unserer Vorbereitungen [...] schwerste politische und militärische Nachteile' zuzulassen, war die Weisung schon auf dem Weg nach Moskau." (198) Um diese Aussage zu untermauern, verweist Weber auf eine Textstelle bei Lew Besymenski, in der es eindeutig heißt, es sei der sowjetischen Abwehr nicht gelungen, den Decknamen für den Plan zu eruieren, geschweige denn dessen Wortlaut zu beschaffen. [4]
Unbewiesen ist weiterhin die Behauptung der Autorin, die beiden unversöhnlichen diktatorischen Regime hätten nach Unterzeichnung des Pakts den Zweiten Weltkrieg in Europa entfesselt. Anscheinend ist sich Weber über den Unterschied zwischen der von NS-Deutschland ausgegangenen Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und der Förderung seiner Entstehung, in die sowohl die UdSSR als auch andere Mächte - wenn auch in unterschiedlichem Maße - involviert waren, nicht ganz im Klaren. Ihre Schlussfolgerung, der Pakt habe die außenpolitische Isolation der UdSSR beendet und die Kriegsgefahr reduziert, widerspricht den bekannten Tatsachen: Hitler hatte 1939 nicht die Absicht, die UdSSR anzugreifen, dagegen ebnete der Hitler-Stalin-Pakt den Weg zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion zwei Jahre später und schränkte zugleich deren Handlungsspielraum in der internationalen Arena stark ein.
Weber konstatiert insgesamt zu Recht: "Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs besitzt, unterschätzt." (12) Zur Präzisierung sei lediglich hinzugefügt, dass diese Unterschätzung nicht nur auf die Anfangsphase, sondern auch auf den gesamten Zweiten Weltkrieg zutrifft. Tatsächlich stellten die deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1939 und 1941 ein hochkomplexes Gefüge unterschiedlich ausgerichteter strategischer Ziele und zeitweise übereinstimmender Interessen zweier Diktatoren dar, die in einem durch ihre eigene Politik destabilisierten internationalen Umfeld agierten. Ohne die Berücksichtigung all dieser Aspekte wird das Thema nicht nur unvollständig erfasst und entsprechend unterschätzt, sondern eine Darstellung der Problematik ist auch in hohem Maße unglaubwürdig. Das hier rezensierte Buch liefert dafür einen anschaulichen Beleg.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie D (1937-1945), Bd. VI: Die letzten Monate vor Kriegsausbruch März bis August 1939, Baden-Baden 1956, Dok. 451, S. 504.
[2] Vgl. Franz Halder: Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939-1942, Bd. 1: Vom Polenfeldzug bis zum Ende der Westoffensive, bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1962, S. 25.
[3] I.M. Maiskij: Dnevnik diplomata, London 1934-1943, Bd. 1. Moskau 2006, S. 443; Gabriel Gorodetsky (Hg.): Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943, München 2016, S. 344.
[4] Vgl. Lew Besymenski: Stalin und Hitler: Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin 2002, S. 341.
Sergej Z. Sluč