Christian Booß: Vom Scheitern der kybernetischen Utopie. Die Entwicklung von Überwachung und Informationsverarbeitung im MfS (= Analysen und Dokumente; Bd. 56), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 400 S., ISBN 978-3-525-35212-0, EUR 30,00
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Die DDR gilt für Netzaktivisten und Netzaktivistinnen immer wieder als Referenzpunkt, um den Überwachungsstaat zu entlarven und gegen Gesetze, wie die Erweiterung der Vorratsdatenspeicherung, zu argumentieren. Das Wechselspiel zwischen persönlicher Freiheit und maximaler Sicherheit steht spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 wieder im Fokus des öffentlichen Diskurses. Ein Blick in die Geschichte der Informationsverarbeitung in Geheimdiensten, wie dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), zeigt Parallelen auf und offenbart ein Dilemma der Informationsverarbeitung, das sich wie ein roter Faden durch die Publikation von Christian Booß zieht: Bedeutet ein Mehr an Informationen tatsächlich ein Mehr an Sicherheit?
Christian Booß verknüpft in zehn Kapiteln die Geschichte der Kybernetik in der DDR mit dem Ausbau des MfS. Im Zentrum steht die Frage, wie innerhalb des MfS Informationen verwaltet und aufgearbeitet wurden. Dies beschreibt Booß anhand der Veränderungsprozesse durch die Übernahme kybernetischer Methoden und durch eine Verschiebung der Arbeitsaktivitäten hin zu Massenüberprüfungen.
Die Informationsverarbeitung zu zentralisieren und an der wissenschaftlich-analytischen Methode der Regelung und Steuerung von Systemen - also der Kybernetik - zu orientieren war ein zentrales Ziel Anfang der 1960er Jahre und eine wichtige Grundlage, um die Auswertung von Informationen im MfS zu beschleunigen und die Überwachungsaufgaben auszudehnen. Dies geschah durch eine flächendeckende Optimierung, mit der eine immer größere Menge an Informationen verarbeitet, analytisch ausgewertet und so die Arbeit des MfS kontinuierlich effektuiert werden sollte. Die Grundsätze des kybernetischen Denkens blieben, so Booß, auch nach der Reformpolitik Ulbrichts Ende der 1960er Jahre und dem Bedeutungsverlust der Kybernetik ab den 1970er Jahren erhalten. Informationsarbeit wurde verwissenschaftlicht, was am Ende das Scheitern der kybernetischen Idee zur Folge hatte.
Als Einführung in die Studie dient ein vorgezogenes Längsschnittkapitel zur Kreisdienststelle Gransee, in dem die zentralen Thesen der Studie aus der Mikroperspektive beleuchtet werden. Ohne weitere Kenntnis des Themas bietet dieser Zugriff die Möglichkeit einer Orientierung in der sonst sehr dichten Studie. Zudem ist der Reichtum an Details und das Quellenmaterial bezogen auf das Fallbeispiel Gransee beeindruckend.
Die anschließenden Kapitel folgen einer Chronologie von der Gründung des Ministeriums 1950 und deren frühe Versuche der effektiven Informationsauswertung über die Nutzung der kybernetischen Idee in den 1960er Jahren, der Überforderung der Kreisdienststelle durch Massenüberwachung bis hin zur Einführung computergestützter Auswertung. Diese Entwicklung verlief, wie Booß schlüssig zeigen kann, in genau diesen vier Etappen ab. In der Aufbauzeit des Ministeriums nutzte die Behörde vor allem aufwendige Karteikartensysteme zur Informationsbearbeitung und zur Ordnung der Vorgänge. Durch den kybernetischen Ansatz, der sich im Laufe der 1960er Jahren durchsetzte, gewann die analytisch bewertete Einzelinformation größere Bedeutung. Zur Verbesserung der Informationsarbeit wurde ein Kerblochkarteisystem eingesetzt, welches eine quasi-automatisierte Auswertung ermöglichte. Nebenbei gewannen auch die Auswerter und Auswerterinnen an Bedeutung, die mit Hilfe eines Regelwerkkomplexes Informationen miteinander verzahnten. Die Richtungswechsel hin zur Massenüberwachung, besonders des Reise- und Personenverkehrs, überforderte, so Booß, das kybernetisch-analytische System der Schwerpunktsetzung. Das MfS entwickelte sich zu einem "Massen-Speicher", der besonderen Wert auf die Erfassung der DDR-Bevölkerung legte. Dies führte zu einer "Steuerparadoxie", da die kybernetische Ausrichtung auf Schwerpunkte immer wieder aufgeweicht wurde, was zu inneren Konflikten, gerade mit Blick auf die Auswerter, führte. Seit 1981 setzte das MfS eine zentrale Personendatenbank (ZPDB) auf EDV-Basis ein, diese ermöglichte aber erst Ende der 1980er Jahre die Erfassung elektronischer Personenprofile.
Booß lenkt den Blick auf das MfS weg von der gängigen Fokussierung auf die Informationsgewinnung durch inoffizielle Mitarbeiter (IM) hin zum erweiterten Aufgabenspektrum der Behörde, zu dem auch die Kontrolle von Wirtschaft und Landwirtschaft, staatlichen Organen und des grenzüberschreitenden Verkehrswesens gehörte, um die Entwicklung der Informationsverarbeitung aufzuzeigen. Bei genauer Betrachtung der Vorgänge und personellen Kapazitäten des Ministeriums kann beispielsweise ein höherer Aufwand in der Überwachung der Volkswirtschaft als der von Staat und Opposition beobachtet werden. Dabei gewinnen verschiedene Informationsgewinnungsmöglichkeiten an Bedeutung. Die Schwerpunktsetzung bisheriger Studien zum MfS auf die Rolle von IMs vernachlässige, so Booß, Veröffentlichungen aus offiziellen Kanälen. Ebenso hinterfragt die Studie kritisch die Rolle des MfS als Steuerungsinstrument einer Massenüberwachung, gerade mit Blick auf die Schwächen der MfS-Überprüfungen.
Die Publikation zeichnet sich durch eine beeindruckende Fülle an Quellenmaterial aus. Die Ausführungen sind teilweise sehr detailliert und können mitunter den Blick auf den Gesamtzusammenhang erschweren. Die Publikation selbst sei, so betont Booß, ein "Abfallprodukt" [1] seiner justizpolitischen Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, die 2017 in eine ebenso analytische und quellengesättigte Studie zur Rolle der Rechtsanwälte im Justizwesen der DDR mündete. Mit dieser neuen Publikation legt Booß ein Standardwerk vor, das für künftige Studien zur Geschichte der Informationsverarbeitung, aber auch zur Geschichte des MfS zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. So wäre ein praxeologischer Blick auf die Rolle der Auswerter und Auswerterinnen sowie deren Werdegänge weiterführend. Hier bietet sich dezidiert eine Genderperspektive an, da auch in anderen Bereichen der Datenverarbeitung in der DDR vermehrt Frauen eingesetzt wurden. Generell bereichert die Studie die bisherige Forschung zum Innenleben der DDR-Institutionen durch eine neue, quellenzentrierte Perspektive.
Anmerkung:
[1] Podcast: Kybernetische Utopien, 25.11.2020, Minute 07:11; https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/kybernetische-utopien/ (letzter Zugriff: 22.04.2021).
Janine Funke