Rezension über:

Ross W. Halpin: Jewish Doctors and the Holocaust. The Anatomy of Survival in Auschwitz, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, XX + 233 S., ISBN 978-3-11-059604-5, EUR 68,95
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Rezension von:
Maike Rotzoll
Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Maike Rotzoll: Rezension von: Ross W. Halpin: Jewish Doctors and the Holocaust. The Anatomy of Survival in Auschwitz, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35867.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Ross W. Halpin: Jewish Doctors and the Holocaust

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Arzt sein im Angesicht des Absurden: Niemand hat dieses Paradox, dieses Dilemma und dennoch diese Notwendigkeit literarisch so überzeugend dargestellt wie Albert Camus in 'Die Pest' (1947). Nicht von ungefähr greift Ross W. Halpin, externer Forschungspartner der Universität Sydney im Bereich Health Ethics, an einer zentralen Stelle seines hier zu besprechenden Buches (119) über jüdische Ärztinnen und Ärzte im Lagersystem Auschwitz auf Camus' fiktive Beschreibung der ärztlichen Tätigkeit in der eingeschlossenen und von Pest befallenen Stadt Oran zurück. Und doch geht es in Halpins Buch nicht um das Verhalten von Ärzten angesichts einer natürlich bedingten Katastrophe, sondern um ihr Überleben angesichts eines Menschheitsverbrechens.

Die Frage, wie es überhaupt möglich war, Auschwitz zu überleben, ist keineswegs neu, jedoch in Anbetracht der bis dahin ungeahnten, letztlich unvorstellbaren Dimension und Brutalität des Verbrechens stets aktuell. Rotzoll widmet sich aber in seinem Buch einer speziellen Untergruppe von Häftlingen, den jüdischen Ärztinnen und Ärzten, die auch im Lager als solche tätig waren und somit gezwungenermaßen Teil der tödlichen Maschinerie wurden: Sie hatten die Aufgabe, die Arbeitsfähigkeit der kranken Häftlinge zwecks weiterer Ausbeutung wiederherzustellen, an Selektionen in den Krankenbaracken teilzunehmen, Entscheidungen über die Zuteilungen der knappen medizinischen Ressourcen und damit auch über Leben und Tod zu treffen oder bei verbrecherischer Forschung mitzuwirken. Nach Primo Levi gehörten sie neben "Kapos" und anderen Gruppen als Träger notwendiger Funktionen somit zu der "Grauzone" der privilegierten Häftlinge, deren Überlebenschance die der gewöhnlichen Häftlinge überstieg (115). Zu der speziellen Gruppe der jüdischen Ärztinnen und Ärzte in Auschwitz existiert wenig Literatur. Rotzoll stellt die Hypothese auf, dass ihr (mögliches) Überleben nicht ausschließlich von Zufällen bestimmt war (XVI). Bezüglich der Bedingungen geht er von einem Zusammenspiel von drei Faktorenbündeln aus - (Häftlings-)Status, Persönlichkeitszüge und (psychische) Abwehrmechanismen - und postuliert, dass aus allen Bereichen Einflüsse zusammenkommen mussten, um ein Überleben oder eine längere Zeit des Überlebens zu ermöglichen (134).

Um einer Antwort auf die Frage der Bedingungen des Überlebens näherzukommen, beschäftigte sich Rotzoll intensiv mit den Lebensgeschichten von 32 Ärztinnen und Ärzten, die Auschwitz überlebten, und erweiterte wo möglich die schmale archivalische Überlieferungslage mit Berichten lebender Nachkommen. Ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, folgt der Autor damit der Methode der kollektiven Biografie. Hierfür typisch ist auch der Fokus auf drei exemplarische Biografien, die nach transparenten Kriterien - Vorhandensein von Memoiren und auskunftsbereiten Verwandten sowie repräsentativ für die Gruppe nach Geschlecht und Alter - ausgewählt wurden, wenngleich leider die Charakteristika der Gesamtgruppe nicht nachgezeichnet werden. Sehr eindrucksvoll sind jedoch die längeren biografischen Skizzen zu Sima Vaismann (Sowjetunion, Frankreich), Louis Micheels (Niederlande) und Giselle Perls (Rumänien), die durch kürzere zu Alina Brewda (Polen) und Lucie Adelsberger (Deutsches Reich) ergänzt werden. Zu den beiden Letzteren lagen weniger Zeugnisse vor, mehr jedoch als zu dem kurz im Kontrast dargestellten Maximilian Samuel (Deutsches Reich), der die Shoah nicht überlebte. Zwar wären insbesondere zu den autobiografischen Aufzeichnungen genauere Angaben zu Zeitpunkt und Kontext ihres Entstehens wünschenswert (quellenkritische Überlegungen erfolgen in allgemeiner Form im Kapitel "Evaluation of Sources"), jedoch zeigt sich in beeindruckender Weise sowohl die Vielfalt geografischer Herkunft, mehr oder weniger stark religiös geprägter Familienstruktur und aus diesen Konstellationen hervorgegangener Persönlichkeiten als auch eine häufige Gemeinsamkeit: die vermutlich berufstypische Zugehörigkeit zur oberen Mittelklasse. Im Hinblick auf die Überlebenschancen kommt der Verfasser zu der wichtigen Erkenntnis, dass der Begriff "privilegiert" bezüglich der Ärztinnen und Ärzte in der Lagerhierarchie diversifiziert werden muss. Einige von ihnen, insbesondere diejenigen, die in verbrecherische Forschung einbezogen wurden, erhielten deutlich mehr Vergünstigungen (Nahrung, Kleidung, Schlafplatz, Ausnahmeregelungen). Der mögliche Überlebensfaktor "Status" ist also unterschiedlich hoch anzusetzen.

Bezüglich der beiden anderen Faktorenbündel, der Persönlichkeitszüge und der psychischen Abwehrmechanismen, ist zunächst festzustellen, dass Art und Umfang der zugrundeliegenden Quellen eine retrospektive Beurteilung zumindest sehr erschweren. Zu den Persönlichkeitszügen rechnet Rotzoll neben Intelligenz, Selbstachtung, Entschlossenheit, Einfühlsamkeit, Realitätssinn, Zähigkeit und einigen anderen Faktoren auch "Resilienz" (151). Diese wird definiert als Fähigkeit, sich von schwerwiegenden Lebensereignissen zu erholen ("ability to bounce back after experiencing loss, failure, tragedy and trauma", 152). Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass diese Fähigkeit in Auschwitz überlebenswichtig war. Zweifelhaft erscheint hingegen, ob sie auf einer Ebene mit den anderen genannten Faktoren zu sehen ist oder ob sie sich nicht vielmehr aus einer Kombination dieser und eventuell weiterer Faktoren (zum Beispiel Unterstützung durch Andere) ergibt.

Zu diesen weiteren Faktoren könnten auch die unbewusst verwendeten psychischen Abwehrmechanismen gehören. Deren Annahme ist Teil psychoanalytischer Theoriebildung in der Folge von Sigmund Freud, wobei aufgrund der Arbeiten nachfolgender Analytikergenerationen davon auszugehen ist, dass solche Mechanismen ubiquitär vorkommen und keineswegs pathologisch sein müssen, sondern psychische Stabilität häufig erst ermöglichen. Sie gelten als typisch für das Individuum und seine Entwicklung (und lassen sich insofern kaum von den Persönlichkeitszügen trennen). Für die konkrete Situation im Lagersystem Auschwitz ergibt eine Einteilung in mehr oder weniger pathologische Abwehrmechanismen im Hinblick auf das Überleben keinen Sinn. Zwar mag die Fähigkeit der Sublimierung von "Trieben" als "reifer" Abwehrmechanismus sich positiv ausgewirkt haben, doch Humor und Ironie als weiterer "reifer" Abwehrmechanismus war für die Situation in Auschwitz kaum geeignet. Stabilisierender mochten in dieser Umgebung ansonsten als eher "unreif" angesehene Abwehrmechanismen wie Verdrängung und Verleugnung sein, da sie den nicht hinterfragten Gebrauch von Privilegien ermöglichten. Ohnehin sind die Abwehrmechanismen als theoretische Konstrukte und als unbewusste psychische Mechanismen der historischen Methode nicht direkt zugänglich, schon gar nicht auf der genannten Quellenbasis, sodass die Zuordnung zu den untersuchten Personen zwangsläufig ebenso spekulativ bleiben muss wie die ansatzweise quantifizierenden Angaben im Kapitel "Anatomy of Survival" zur Bedeutung der drei Bereiche (Status, Persönlichkeit, Abwehrmechanismen) für das Überleben der jeweiligen Person.

Die Studie bestätigt erwartungsgemäß den Eindruck, dass alle genannten Bereiche für das Überleben der untersuchten Personen zu einem unterschiedlich großen Anteil bedeutsam gewesen sind. Mehr war mit diesem Buch und seiner intensiven Recherche nicht zu leisten, wenngleich erst ein Vergleich mit einer Gruppe von Ärztinnen und Ärzten, die Auschwitz nicht überlebten, und anderen Gruppen von Auschwitz-Häftlingen zu greifbaren Ergebnissen führen würde. Dies schmälert das Verdienst dieses überaus lesenswerten Buches keineswegs, das vor allem darin besteht, die Schicksale der jüdischen Ärztinnen und Ärzte mitsamt den ethischen Dilemmata im Kontext des Lagersystems auf eine sehr eindrucksvolle und einprägsame Weise dargestellt zu haben.

Maike Rotzoll