Gregor Schöllgen / Gerhard Schröder: Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen, München: DVA 2021, 248 S., ISBN 978-3-421-04876-9, EUR 22,00
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Was für ein außergewöhnliches Autorenteam! Gregor Schöllgen, renommierter Historiker und einfühlsamer Biograf von Gerhard Schröder, und der ehemalige Bundeskanzler selbst analysieren gemeinsam die Lage der Welt. Der eine bringt praktische politische Erfahrungen ein, der andere sein historisches Wissen.
Ihre Kernthese: Die alte Weltordnung westlicher Dominanz ist zusammengebrochen, seit 30 Jahren sind Amerikaner und Europäer auf dem Rückzug: "Der Westen hatte seine Zeit. [...] Aber sie ist vorbei." (221) Warum? Die Autoren werfen den demokratischen Eliten "kollektives Versagen" (9) vor: Das niederschmetternde Ergebnis: eine "rasante Autodemontage der westlichen Gemeinschaften". (221) Die Folgen ebenso bedrückend: Der "europäische Handlungsspielraum [ist] nach Ende des Kalten Krieges [...] empfindlich geschrumpft." (9)
Seit 1991 zeigt sich die Europäische Union unfähig, Herausforderungen wie den Klimawandel, die Flüchtlings- oder Eurokrise zu meistern. Beide Autoren nehmen kein Blatt vor den Mund: Massive sicherheitspolitische Defizite würden in Europa souverän weggelächelt, wie die vormalige Bundesverteidigungsministerin als EU-Kommissionspräsidentin in der Corona-Krise routiniert vorführt. Die jüngsten innereuropäischen Konflikte um die Verteilung der knappen Impfstoffe bestätigen die kritische Sichtweise der Autoren.
Den Brexit interpretieren sie als legitimen Protest gegen die EU als "institutionelles Monster, das Zeit und Energie für ein ritualisiertes Geschacher um Posten in der EU aufbringen kann, während die drängenden Themen der Gegenwart in den Akten der Brüsseler Amtsstuben Staub ansetzen" (32). Auch die in europäischen Hauptstädten stoisch negierte krisenpolitische Dialektik zwischen unkontrollierter Einwanderungspolitik der EU und Brexit wird bloßgelegt.
Kritische Analysen über den transatlantischen Machtverlust in der Welt haben derzeit Konjunktur. Neu ist jedoch, dass ein Ex-Bundeskanzler die Versäumnisse der politischen Klasse so schonungslos offenlegt. Auch die Politik der USA kommt schlecht weg: "Mit dem Ende des Kalten Krieges [...] wurde die Rücksichtslosigkeit zur Signatur amerikanischer Interessenpolitik." (56) Widerspruch fällt schwer. Natürlich ist Donald Trump nicht der Alleinschuldige. Das Trauma von 9/11 wurde zum Auslöser für verfehlte Außenpolitik und gescheiterte Anti-Terror-Kriege.
Insofern kann man es Gerhard Schröder nicht verdenken, wenn er selbstbewusst festhält: "Keine Bundesregierung hat es gewagt, [...] einem amerikanischen Präsidenten [...] öffentlich zu widersprechen oder ihm gar die Gefolgschaft zu verweigern. [...] Vor allem aber hielt es die Bundesregierung für nicht akzeptabel, dass sich der amerikanische Präsident mit seiner Entscheidung zum Krieg gegen den Irak ausdrücklich gegen ein anderslautendes Votum des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stellte." (58)
Für Schröder war es nur konsequent, dass sich Deutschland auch 2011 in der Libyen-Krise bei der UN-Abstimmung über eine Intervention der Stimme enthielt und am Krieg nicht beteiligte. Brasilien, China, Indien und Russland taten das ebenso: "Viele nahmen das als Indiz, dass die Bundesrepublik [...] auf der falschen Seite gestanden habe. Andere fanden es konsequent, dass Deutschland und Russland nach gemeinsamen Wegen suchten." (60) Mehr Distanz gegenüber den USA und mehr Nähe zu Russland - das Credo des Bundeskanzlers sorgte damals für Unmut in der westlichen Welt, heute erscheint diese Sicht vielen zukunftsträchtig.
Das Ringen um verbesserte Beziehungen zu Russland ist diesem Buch eine Herzensangelegenheit: "Denn so viel ist gewiss: Ohne ein belastbares Verhältnis zu Russland hat Europa keine Zukunft. Das ist eine Herausforderung, denn der große Nachbar steht am Scheideweg." (60)
Schröder hat hierfür in den vergangenen Jahren viel Kritik einstecken müssen, zumal er bekanntlich in führender Stellung im russischen Staatskonzern Gazprom tätig ist. Dieses Buch betrachtet die Politik Putins teils nicht unkritisch; aber er und sein Co-Autor plädieren für mehr Einfühlungsvermögen in Russlands Interessenlage.
Beide Autoren stehen nicht allein, wenn sie die Osterweiterung der NATO als fatalen Fehler westlicher Politik bezeichnen. Als Kronzeuge dient ihnen George F. Kennan, der große amerikanische Diplomat und strategische Begründer der Containment-Politik. Kennan bezeichnete die Expansion der Nato nach Osten als den ",verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik seit Ende des Kalten Krieges'" (47).
Konsequenterweise interpretieren beide Autoren den Krieg in Georgien, der 2008 vom pro-westlichen Präsidenten in Tiflis vom Zaun gebrochen wurde, wie auch die Annexion der Krim 2014 und den Krieg in der Ostukraine letztlich als "Reaktion auf die westlichen Offensiven vor der russischen Haustür" (71).
Putin ist kein frommer Mönch. Angesichts der westlichen Machteinbußen verwundert es die Autoren nicht, dass Russland rücksichtslos den eigenen Vorteil sucht. Ihr Fazit: Den Europäern fehlt das Gespür für machtbewusste Selbstbehauptung. Und um von eigenem Versagen abzulenken, werde Putin dämonisiert. Schröder und Schöllgen konstatieren realistisch: "Putin [ist] kein Hasardeur. Er demonstriert, provoziert, überschreitet auch Grenzen, [...] aber den Verstand verloren hat er nicht." (73)
Wie kann der Westen sich behaupten, wie soll er reagieren? "[...] Russland durch wirtschaftliche Sanktionen und Boykotte weiter zu schwächen, ist keine sinnvolle Option." (74) Der Westen, besonders die EU und voran Deutschland, sollten die Kooperation nicht aufgeben - auch nicht die umstrittene Erdgaspipeline North Stream 2. Zwar sitze Europa "gegenüber Moskau an einem sehr langen Hebel. Denn Russland ist [...] auf die Deviseneinnahmen angewiesen" (77). Doch statt "in den Schützengräben des Kalten Krieges hocken zu bleiben" (79), solle der Westen kluge Interessenpolitik betreiben. Schließlich habe Russland bei weiterer Konfrontation alternative Optionen. Schröder sorgt sich, dass Europa sich in einer doppelten Konfrontation gegenüber Russland und China übernehmen könnte.
Für beide Autoren bietet der rasante Aufstieg Chinas zur neuen Wirtschaftsmacht kooperative Chancen. Natürlich sucht Peking den eigenen Vorteil, aber China-bashing, wie im Westen jetzt Mode, reiche nicht aus. Besinnung auf die eigenen wirtschaftlichen Stärken und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit sind gefordert.
Angesichts des in Deutschland verbreiteten Provinzialismus bzw. einer moralisierenden Selbstgerechtigkeit wirkt das Plädoyer der beiden Autoren für mehr Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen, Staats- und Regierungsformen geradezu befreiend. Zur Anerkennung der Leistung anderer gehört eben auch, dass China in der Corona-Krise durch massive und schnelle Hilfslieferungen eine Art "Neue Seidenstraße der Gesundheit" initiiert hat.
Mit Blick auf die autoritären Herausforderungen aus Moskau und Peking - die dortigen (massiven) Menschenrechtsverletzungen werden nicht in Abrede gestellt, aber als bedauerliche und (derzeit) nicht zu ändernde Real-Bedingung hingenommen - lautet die Botschaft der Autoren, der Westen müsse nüchtern Chancen und Risiken für verbesserte Kooperation abwägen. Angesichts der atemberaubenden Modernisierung Chinas müsse der Westen seine Trägheit überwinden, wenn er sich behaupten wolle.
Die Lektüre des Buches gleicht einer Achterbahn. Einerseits fordern Schöllgen und Schröder mehr Optimismus, andererseits klingt ihr Fazit fatalistisch: "Den Westen, so wie wir ihn fast ein halbes Jahrhundert lang kannten und schätzten, gibt es nicht mehr" (241); vielleicht urteilen sie etwas voreilig. Auch das Plädoyer beider zur Abschaffung der NATO und stattdessen für eine europäische Armee klingt recht illusorisch.
Ob man der weltpolitischen Analyse von Schröder und Schöllgen zustimmt oder nicht - sie legen in zentralen Punkten den Finger in die Wunden westlicher Politik. Ihr Plädoyer für Selbstbehauptung, Kooperation und Toleranz ist erfrischend: "Funktionieren kann der Dialog nur, wenn der Partner nicht an den Pranger gestellt und mit jener Überheblichkeit behandelt wird, die Europa und Amerika immer wieder gegenüber den anderen Akteuren der Weltpolitik an den Tag legen. Das gilt für Russland und die Türkei, es gilt für viele Staaten der südlichen Halbkugel, und es gilt nicht zuletzt für China." (236)
Für die Autoren steht fest: Die "Staaten der nördlichen Halbkugel [tragen] eine erhebliche [...] Mitverantwortung für die katastrophalen Zustände in weiten Teilen des Südens." (237) Zumal das kollektive Versagen des Westens als Entwicklungshelfer sich auch "in den nicht mehr abreißenden Strömen von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten [zeigt], die ihr Heil in Europa suchen." (237) Es bleibt nur der "substantielle Transfer von Kapazitäten in die von Katastrophen aller Art heimgesuchten Regionen der Erde." (240)
Umdenken ist deshalb das Gebot der Stunde. Ob der Westen dieser Endzeitstimmung entkommen oder ihr erliegen wird, steht in den Sternen. Aber es ist wichtig, dass - wie in diesem Buch - schonungslos die derzeitige Lage analysiert wird - Irrungen und Wirrungen miteingeschlossen.
Christian Hacke