Irene Dingel / Michael Rohrschneider / Inken Schmidt-Voges u.a. (Hgg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit. Handbook of Peace in Early Modern Europe, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, 1130 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-058805-7, EUR 149,95
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Aus Bonner Sicht fügt sich das Handbuch hervorragend in die Arbeit des von Michael Rohrschneider geleiteten Zentrums für Historische Friedensforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität [1] ein. Das am 24. Juni 2013 gegründete ZHF erforscht in vielen Projekten europäische Friedenssicherungsprozesse in der Frühen Neuzeit. Auf der Basis der Arbeit, die in den letzten zehn Jahren am ZHF und an zahlreichen anderen Forschungsstätten geleistet worden ist, ist es den Herausgeber*innen gelungen, anhand von vielen Beispielen eine ausgezeichnete Übersicht über den Stand der Forschung zu geben. Die 51 Beiträge verteilen sich gleichmäßig auf fünf Sektionen: Friedenbegriffe und -ideen, Friedensordnungen, Friedenspraktiken und -prozesse, Friedenskultur: Medien und Vermittlung, Frühneuzeitliche Friedensschlüsse. Eine Einleitung, in der die Beiträge zusammengefasst und entlang des Oberthemas ("Friedensforschung") geschickt miteinander in Bezug gesetzt werden, rundet die Publikation ab.
In Ergänzung zu der Rezension des Handbuches von Wolfgang Reinhard in der Maiausgabe der sehepunkte [2] spreche ich im Folgenden zwei Punkte an, die nicht unbedingt als Kritik, sondern als konstruktive Erweiterung des Themas verstanden werden sollten. 1) Frieden, Krieg, Gewalt, Versöhnung sowie 2) Transferprozesse und außereuropäische Perspektiven.
Zu 1): In dem Handbuch findet sich der Satz: "'Frieden' gehört in allen menschlichen Kulturen zu den zentralen symbolischen Sinnsystemen, die für die Bewältigung der Welt und ihrer Kontingenz zur Verfügung stehen. Denn im Kern geht es in allen Konzepten nicht nur um die Frage, wie Menschen ihr Verhältnis zur Welt, zur Natur und zu den Mitmenschen gestalten, sondern darum, welche Rolle hierbei Gewalt spielt - spielen soll und spielen darf" (XVII). Das mag richtig sein, doch wer von Frieden als einer Universalie spricht, sollte wohl im Rahmen eines Handbuches auch etwas mehr über Krieg und Gewalt reden. Es ist eine interessante Frage, was für den Menschen auf lange Sicht hin betrachtet den Normalzustand darstellt: Krieg oder Frieden? In vielen Gesellschaften, die ich beobachte, scheint eher Krieg der "natürliche" Modus zu sein. Vor allem wird als Gegenbegriff oder, wenn man so möchte, als Alternativkonzept eher Ordnung als Frieden verwendet. Die Angst vor dem Chaos und dem Zusammenbruch der inneren Ordnung stellt ein wiederkehrendes Motiv etwa im Schrifttum muslimischer Gelehrter dar. Ibn Taymiyya (gestorben 1328) zum Beispiel meint, dass sechzig Jahre unter einem brutalen Herrscher für die Gemeinschaft besser seien als eine einzige Nacht ohne Sultan. Und bei al-Ġazzālī (gestorben 1111) heißt es, dass sich das Individuum zwar der Anarchie durch Weltflucht entziehen könne, für die Aufrechterhaltung der gottgewollten politischen Ordnung jedoch unbedingt ein Herrscher notwendig sei, dem man blind gehorchen müsse. Lohnenswert wäre es sicherlich, sich noch einmal systematisch den Zusammenhang von Gewalt, Krieg und Frieden in der Frühen Neuzeit anzusehen, insbesondere auf der Basis der in den letzten 15 Jahren intensiv geführten Debatten um globale Weltdeutungen und das schwere europäische Erbe von Kolonialisierung (und Entkolonialisierung). Brutale Gewalt von Seiten der Kolonialmächte war ja auf das Engste mit den europäischen Eroberungen in Asien, Afrika und den Amerikas und der Aufrechterhaltung der Herrschaft vor Ort verbunden. Frieden war hier in der Regel als Akzeptanz europäischer Kolonialherrschaft gemeint. Friedensverträge wurden von den Europäern dann geschlossen, wenn ihre Macht begrenzt war und eine koloniale Vorherrschaft noch nicht möglich war.
Wenn es weniger um Frieden in einem europäischen Sinne geht, sondern generell um Konflikttransformationen in sozialen Ordnungen, so gibt es nicht wenige Stimmen, die vermuten, dass aus anthropologischer Perspektive "Versöhnung" zu den vermeintlich "universellen Elementen" der Konfliktbearbeitung gehört. Allerdings stellt es nach wie vor ein Desiderat dar, was den kontextspezifischen Bedeutungsgehalt von Versöhnung ausmacht und was das daraus abzuleitende Potenzial für situative Konfliktbearbeitung und die (Wieder-)Herstellung gewaltloser sozialer Beziehungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen umfasst. Versöhnung ist ein Begriff, der einerseits normativ besetzt ist und andererseits je nach gesellschaftlich-kulturellem Kontext auch unterschiedlich verstanden und praktiziert wird. Im weitesten Sinne wird Versöhnung als ein Ziel oder einen Prozess angesehen, der einen Zyklus von Schuldanerkennung und Bitte um Vergebung durch Täter und Verzeihen von Seiten der Opfer umfasst. Eine historisch orientierte Versöhnungsforschung, die die Ansätze gegenwartsbezogener Konflikt- und Friedensforschung und die Betrachtung vergangener Gesellschaften miteinander konstruktiv in Bezug setzt, steht noch aus, könnte aber aus dem Dilemma eurozentrischer Konzeptualisierungen hinausführen.
Zu (2): In dem Handbuch wird als ein wichtiger behandelter Gegenstand genannt: "Der im Zuge der europäischen Expansion erfolgte Export von Friedensvorstellungen und Formen des Friedenschließens nach europäischem Muster in die außereuropäische Welt und die dadurch bedingten transkulturellen Wechselwirkungsprozesse" (XV). Das ist natürlich eine durchaus problematische und recht undifferenzierte Aussage. Der geografische Fokus des Bandes liegt auf Europa mit Schwerpunkt auf dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen (1495-1806). Nur vier der insgesamt 51 Aufsätze behandeln nicht-europäische Regionen. In seinem Beitrag "Ideas of Peace and Practice of Peacemaking in Pre-Modern South Asia" versucht Murari Kumar Jha auf 16 Seiten "südindische" Friedensvorstellungen von Aśoka (304-232) über die Gupta-Dynastie (etwa 320 bis 550 n. Chr.) bis zur Endphase des Moghulreiches im 18. Jahrhundert zu skizzieren und miteinander in einen direkten Zusammenhang zu stellen. Dass diese Zusammenschau am Ende misslingt, liegt auf der Hand. Aufschlussreicher sind die Überlegungen, die Benjamin Steiner in seinem Artikel "Friedensschlüsse mit außereuropäischen Herrschern. Afrika, Mittelmeerraum, Osmanisches Reich" (367-390) anstellt. Die Etablierung der Orient vs. Okzident-Dichotomie und die Abwertung und das othering sowohl der islamischen Kultur wie auch afrikanischer Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hat dazu geführt, dass die europäische Geschichtsschreibung in Hinblick auf Friedensprozesse bis heute die europäische schriftliche, auf sogenannten "völkerrechtlichen" Normen basierende Vertragspraxis für normgebend hält. Steiner, der sich zahlreiche Friedens- und Freundschaftsverträge, Handelsvereinbarungen und Kapitulationen angesehen hat, kann überzeugend zeigen, dass man derartige Abkommen schloss, "um friedliche Koexistenz und Handel, manchmal auch längere Partnerschaften zu sichern," ohne dass damit notwendigerweise ein formaler Kriegszustand beendet wurde. Vielmehr ging es in der Regel "um die Wahrung gegenseitiger Interessen über Kulturgrenzen hinweg". Insgesamt entstand auf diese Weise zwischen europäischen, osmanischen, levantinischen und afrikanischen Akteuren ein "komplexes Verbindungsgeflecht, das die einzelnen Akteure über lokal etablierte Praktiken der Begegnung und Interaktion miteinander verband" (388). Die eurozentrische Sichtweise in Bezug auf die Normativität von Friedensschlüssen und -verträgen müsse, so Steiner, überwunden werden. Wie unterschiedlich das Verständnis von fundamentalen Grundkonzepten wie Herrschaft, Herrscher, Grundbesitz, Wirtschaften, Handel, Vertrag und Abkommen sein kann, verdeutlicht Peter Borschberg in seinem Überblicksbeitrag "Treaties in Asia". Die Aushandlungs-, Übersetzungs- und Aneignungsprozesse, zu denen es in der Frühen Neuzeit infolge des Vordringens der Europäer in Südostasien kam, können von dem Verfasser allerdings nur angedeutet werden und bedürfen weiterer Studien. Dies gilt ebenso für die von Katherine A. Hermes in ihrem Aufsatz behandelten Friedensverträge zwischen den Kolonialmächten auf der einen und indigenen Gruppen in Nordamerika auf der anderen Seite ("Peace Treaties Between Colonial Powers and Indigenous Peoples in North America").
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich keiner der Beiträge ernsthaft mit der Aneignung europäischer Konzepte und Praktiken von Seiten außereuropäischer Gemeinschaften befasst. Aber Steiner, Borschberg und Hermes deuten erfreulicherweise Richtungen an, in die Forschung weitergehen sollte. Der von den Herausgeber*innen des Handbuches verwendete Begriff "Export" scheint mir in diesem Zusammenhang recht unglücklich gewählt zu sein. Als Analysekategorie für die die Übertragung von technischem Knowhow und kognitiven Diskursen hat sich mittlerweile der Ansatz der travelling concepts durchgesetzt. Im Zusammenhang von travelling concepts interessieren die Wandlungen, die bei der konkreten Übertragung von Wissen bzw. Normen und Repräsentationen stattfanden. Konzepte werden in Übertragungsvorgängen verändert und neu ausgehandelt. Gerade diese Lokalisierung von Übersetzungsvorgängen in konkreten Gruppen oder disziplinären Gemeinschaften im übergreifenden, überregionalen oder globalen Kontext wären von großem Interesse. Dabei könnte man sich dem mit den Ausdrücken "Frieden", "Krieg", "Gewalt" und "Versöhnung" verbundenen Phänomenen etwa über die Analyse von Semantiken oder lexikalischen Feldern nähern. Die Erfassung der relevanten Verwendungsweisen sprachlicher Ausdrücke zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten historischen Kontext würde uns sehr weiterhelfen. Durch welche Wörter werden Begriffe sprachlich zum Ausdruck gebracht? Gerade bei kulturkomparatistischen Themenstellungen bietet sich die Analyse von Wortfeldern an, denn wohl kaum werden sich in zwei verschiedenen Sprachen Wörter finden, deren Verwendungsweisen exakt einander entsprechen. Analysen von Leitvokabeln könnten somit neue Einblicke in das Selbstverständnis frühneuzeitlicher außereuropäischer Gesellschaften geben.
Dies alles sind, wie gesagt, nur einige Überlegungen, die weder die grundsätzliche Wichtigkeit des Handbuchs noch die große Leistung der Herausgeber*innen und Autor*innen schmälern sollen.
Anmerkungen:
[1] Webseite des Zentrums für Historische Friedensforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität (ZHF), URL: http://www.zhf.uni-bonn.de.
[2] Wolfgang Reinhard: Rezension von: Irene Dingel / Michael Rohrschneider / Inken Schmidt-Voges [u.a] (Hgg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin / Boston 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5, [15.05.2021], URL: http://www.sehepunkte.de/2021/05/35306.html.
Stephan Conermann