Rezension über:

Krieg und Frieden. Fotografien von Ewgenij Chaldej. Ausstellung des Memoriums Nürnberger Prozesse vom 23. April bis 3. Oktober 2021, http://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/presse/pressematerial/2020/pm-fotos-chaldej/

Rezension von:
Ulrike Goeken-Haidl
Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Goeken-Haidl: Rezension von: Krieg und Frieden. Fotografien von Ewgenij Chaldej. Ausstellung des Memoriums Nürnberger Prozesse vom 23. April bis 3. Oktober 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/36132.html


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Krieg und Frieden. Fotografien von Ewgenij Chaldej

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Es gibt Ikonen des Zweiten Weltkriegs, die als Chiffren für dessen zentrale Geschehnisse und Wegmarken gelten. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg stellte die Fotografie das zentrale Medium der Dokumentation dar und formte nicht nur die individuelle Erinnerung aus. Für die Sowjetunion waren Fotografien ein wesentlicher Bestandteil kollektiver Identitätsbildung, die nach dem Ende des "Großen Vaterländischen Krieges" fortgeschrieben wurde. Keine andere Fotografie symbolisiert das Kriegsende so stark wie das Foto, das Rotarmisten mit der Fahne der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf dem Dach des Reichstags zeigt. Offenbar nicht nur für die Leica des Kriegsfotografen Ewgenij Chaldej steckten diese Soldaten das markante Banner auf das weitgehend zerstörte Parlamentsgebäude. Die Einnahme des Reichstags war nachinszeniert worden; später wurden die Namen der Rotarmisten offenbar von Stalin persönlich neu definiert. Die Symbolkraft dieses im Foto festgehaltenen Triumphs der Roten Armee wird dadurch nicht geschmälert.

Dieses weltberühmte Foto ist enthalten in der Schau "Krieg und Frieden - Fotografien von Ewgenij Chaldej" des Museums Memorium Nürnberger Prozesse, das vom 23. April bis 3. Oktober 2021 seine erste Wechselausstellung präsentiert [1]. Die sorgfältig strukturierte, von Steffen Liebscher kuratierte Ausstellung zeigt Aufnahmen von Ewgenij Chaldej von verschiedenen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs und vom Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Damit erinnert die Stadt Nürnberg erstmals mit 30 Aufnahmen Chaldejs an den 76. Jahrestag des Kriegsendes. Ewgenij Chaldej (1917-1997) zählt zu den bedeutendsten Kriegsfotografen des 20. Jahrhunderts. Seine Bilder bezeugen das verheerende Ausmaß des Zweiten Weltkriegs sowie die Bemühungen um Aufarbeitung und Neubeginn in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sechs Farbfotografien des sowjetischen Fotografen Nikolai Petrow aus dem Russischen Staatsarchiv für Film- und Fotoaufnahmen, Krasnogorsk, ergänzen die Ausstellung und verdeutlichen die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in der von Luftangriffen zerstörten Stadt Nürnberg. Alle Texte und Beschriftungen sind auf Deutsch, Englisch und Russisch verfügbar.

Als Kriegsfotograf der Roten Armee dokumentierte Chaldej Kriegsereignisse und -verbrechen an Schauplätzen wie Murmansk, der Halbinsel Kertsch, Budapest oder Wien. Weltbekannt machte ihn seine eingangs beschriebene Aufnahme der sowjetischen Flagge auf dem eroberten und zerstörten Berliner Reichstag. Nach Kriegsende erhielt Chaldej den Auftrag, nach Nürnberg zu reisen, die Stadt zu fotografieren und den Hauptkriegsverbrecherprozess zu dokumentieren.

Die Ausstellung entstand in Kooperation zwischen der Stadt Nürnberg und der Russischen Föderation und wurde vom Memorium Nürnberger Prozesse kuratiert. Die Fotografien sind Leihgaben der Tochter des Fotografen, Anna Y. Chaldej. Unterstützt wurde die Ausstellung von LOYS, Attorneys at Law, und gefördert von Denis Puchkov. Die Ausstellungseröffnung fand am 22. April 2021 per ZOOM statt, was den tiefen Eindruck dieser Bilder noch unterstrich. Durch den fokussierenden Blick der Kamera waren die Beiträge des Kurators Steffen Liebscher, des neuen Direktors des Memoriums Nürnberger Prozesse Imanuel Baumann, des Nürnberger Oberbürgermeisters Marcus König sowie des Botschafters der Russischen Föderation in Deutschland Sergej Netschajew (der eindrücklich auf die ungeheueren Opfer der Sowjetunion hinwies) und der Tochter des Fotografen Anna Chaldej umso eindringlicher, als nichts von der berührenden Wirkung der Bilder Chaldejis ablenkte. Damit verbunden war eine weitere Premiere: Erstmals wurde eine Ausstellung in den Räumen des "Cube 600" präsentiert, eines größeren Pavillons vor dem Gerichtsgebäude mit Ausstellungsfenstern direkt auf die daran vorbeiführende breite Fürther Straße.

1917 wurde Ewgenij Chaldej in Juzovka (seit 1924 Stalino, seit 1961 Donezk) in der Ukraine geboren. Ein Jahr später wurde dort seine Mutter während eines Judenpogroms ermordet; er entging als Säugling kurz nach der Oktoberrevolution dem Tod offenbar ebenfalls nur knapp. Als Zwölfjähriger unternahm er erste Fotoversuche mit einer selbstgebastelten Kamera; 1933 begann Chaldej seine Laufbahn als Photolaborant in Stalino. Seit 1936 fungierte er als Fotokorrespondent bei der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS.

Seit dem 22. Juni 1941 begleitete er die Rote Armee als Militärberichterstatter für die "Photochronik" der Nachrichtenagentur TASS bei verschiedenen Waffengattungen und Teilstreitkräften und an verschiedenen Kriegsschauplätzen (darunter auch Sewastopol oder der Kursker Bogen), er erlebte die Befreiung Rumäniens, Bulgariens, Jugoslawiens und Ungarns und schließlich die Einnahme Wiens; insgesamt war er nach eigener Schätzung 1148 Tage mit der Roten Armee unterwegs und legte dabei rund 30.000 km zurück. Dabei begleitete ihn eine Leica sowie ein korrespondierendes sowjetisches Modell. Er erfuhr erst nach Kriegsende, dass drei seiner Schwestern und sein Vater von den Deutschen in seiner Heimatstadt ermordet worden waren - wie 60.000 weitere Bewohner, darunter 17.000 Juden.

Im Zuge der aufkommenden Verdächtigungen gegenüber "Sowjetbürgern jüdischer Nationalität" wurde Chaldej 1948 im Rahmen der letzten "großen Säuberung" Stalins - diesmal gegen Juden in der Sowjetunion (in stalinischer Diktion "wurzellose "Kosmopoliten") - mit dem Vorwurf der "Unprofessionalität" konfrontiert, und aus sämtlichen Ämtern oder Stellungen entlassen. Seine Bekanntheit als Chronist des "Großen Vaterländischen Krieges" schützte ihn offenbar vor der Liquidierung beziehungsweise davor, dass man ihn wie viele andere Personen jüdischer Herkunft 1948 einfach "verschwinden" ließ. Er erlebte jedoch Armut und Arbeitslosigkeit, die erst endete, als er 1956 wieder von der Zeitung "Prawda" eingestellt wurde. Wie viele andere verfolgte Kunst- und Kulturschaffende konnte er aber nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Bis in die 1970er Jahre arbeitete er mit Unterbrechungen auch wieder für die TASS. 1991 begegnete er dem deutschen Kurator Ernst Volland, der seine Bilder erstmals in der Bundesrepublik ausstellte und Bildbände mit ihm zusammenstellte.

In der Nürnberger Ausstellung wurde im zentralen Teil der Ausstellungshalle ein Foto mit dem Titel "Sewastopol nach der Befreiung 1944" präsentiert. Es zeigt Sonnenbadende inmitten von Ruinen. Der Osteuropahistoriker Bernd Bonwetsch (1940-2017), bis 2009 (Gründungs-)Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau, hat schon 1988 den Sieg der Sowjetunion als "Triumph im Elend" bezeichnet und dabei an die fast vollständig zerstörte Infrastruktur in den eroberten, besetzten und wieder befreiten Gebieten der UdSSR, die Verschleppung von Millionen Sowjetbürgern und an die Millionen Opfer von Krieg, Vernichtung und Besatzungsherrschaft erinnert. Zugleich stellte er aber die Frage, ob denn dieses Bild trotz allem nicht zu dunkel gezeichnet sei und die Zukunftshoffnungen der Überlebenden ausblende [2]. Ewgenij Chaldejs Foto "Sewastopol nach der Befreiung 1944" scheint diese Frage zu unterstreichen: Junge Männer und Frauen, die den Augenblick genießen in dem Bewusstsein, noch einmal davongekommen zu sein. Dieses Bild überrascht und berührt zugleich. [3]


Anmerkungen:

[1] Informationen zur Ausstellung finden sich unter: http://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/presse/pressematerial/2020/pm-fotos-chaldej/ [23.6.2021].

[2] Vgl. Bernd Bonwetsch: Sowjetunion - Triumph im Elend, in: Ulrich Herbert / Axel Schildt (Hgg.): Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944-1948, Essen 1998, 52-88.

[3] Ewgenij Chaldejs Foto "Sewastopol nach der Befreiung 1944" wird am Anfang dieser Rezension gezeigt. Aufnahme: Ulrike Goeken-Haidl. Bearb.: Ralf Weglehner. Mit freundlicher Genehmigung des Kurators der Ausstellung Steffen Liebscher.

Ulrike Goeken-Haidl