Steffen Dörre: Wirtschaftswunder global. Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik (= Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte; Bd. 108), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 394 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12377-8, EUR 64,00
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Mit der auf seiner Dissertation an der Universität Kiel basierenden Studie über das in westdeutschen Außenhandelskreisen dominierende Verständnis der "überseeischen Märkte" beschreitet Steffen Dörre ungewohnte Wege. Ihn interessieren nämlich nicht die Exportstrategien einzelner Unternehmer und Firmen oder die Warenstruktur des Außenhandels und auch nicht die Gründe für die deutschen Exporterfolge. Vielmehr geht es ihm darum, "die Sichtweise einer im Globalisierungsprozess einflussreichen Gruppe auf fremde Märkte, auf Entwicklungschancen und - damit eng verbunden - auf fremde Kulturen zu rekonstruieren" (14). Wie reagierten diese Kreise - Unternehmer, Kaufleute, Verbands- und Kammergeschäftsführer, aber auch Wissenschaftler - auf die Nachteile, unter denen sie im ersten Nachkriegsjahrzehnt gegenüber ihren Konkurrenten in puncto Kapitalausstattung, Informationen oder Personal mit Auslandserfahrung zu leiden hatten? Welche Institutionen produzierten überhaupt "Wissen über 'überseeische' Märkte" und "wie wurde dieses Wissen plausibilisiert" (13)? So lauten zwei von Dörres Fragen, der, mit anderen Worten, "die Forschung zum bundesrepublikanischen Außenhandel um eine kulturhistorische Perspektive" (18) zu erweitern versucht.
Für dieses Vorhaben hat er zahlreiche unveröffentlichte Quellenbestände ausgewertet, darunter Material aus dem Archiv des Bundesverbands der Deutschen Industrie, dem Bundesarchiv Koblenz, dem Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA), dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, dem Staatsarchiv Hamburg und dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu Köln. Außerdem hat er zeitgenössische Veröffentlichungen und Vorträge, Diskussionsprotokolle und einschlägige Zeitschriften wie die "Übersee-Rundschau" herangezogen. Auf diese Weise gelingt es ihm, sowohl "Wissenscluster" und "Netzwerke" in den Blick zu bekommen als auch "Inhalte und Struktur des in und zwischen diesen Clustern zirkulierenden Wissens" (33). Der Untersuchungszeitraum umfasst einen Zeitraum von rund 30 Jahren, von der zweiten Hälfte der 1940er bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre.
Die Untersuchung beginnt mit einem Kapitel über die "Goodwill-Missionen" der 1950er Jahre, die beispielsweise nach Indonesien, Indien, Pakistan, Singapur, Thailand, Mexiko, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Ghana und Nigeria führten. Sie dienten den beteiligten, meist hochkarätigen Industriellen, Kaufleuten, Bankiers und Verbandsfunktionären dazu, das Potenzial dieser Länder "als zukünftige Im- und Exportmärkte auszuloten und um sich an Ort und Stelle ein aktuelles Bild von den ökonomischen Möglichkeiten zu machen" (37). Danach widmet sich Dörre der Frage, wie die "Formierung des Erkenntnisobjekts 'überseeische Märkte'" in der unmittelbaren Nachkriegszeit vonstattenging. Zwar galten die dortigen Märkte als "Garanten für den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft" (62), doch hegten gleichzeitig "große Teile der deutschen Industriellen [...] ein tiefes Misstrauen gegenüber jenen, die auf grenzüberschreitenden Handel setzten" (65).
Das vierte und umfangreichste Kapitel nimmt die verschiedenen Institutionen des Überseewissens genauer unter die Lupe: Dörre identifiziert ein norddeutsches, ein westdeutsches, ein süddeutsches Wissenscluster sowie, obgleich im Abstieg begriffen, ein Wissenscluster in West-Berlin. Das norddeutsche Cluster mit den Städten Hamburg, Bremen und Kiel sowie zahlreichen einschlägigen Institutionen wie dem "Übersee-Club", dem HWWA und dem Institut für Weltwirtschaft nahm zunächst eindeutig die Spitzenstellung ein, "da die hier geballte Kompetenz in 'Überseefragen' lange Zeit konkurrenzlos war" (126). Die nächsten Kapitel befassen sich mit den strukturellen Veränderungen des Außenhandels sowie der Institutionen und Netzwerke in den 1960er Jahren. Letztere umschreibt der Verfasser mit der Formel "Vom Überseewissen zum Entwicklungswissen" (199). Im siebten Kapitel analysiert Dörre das von den mit den überseeischen Märkten befassten Institutionen und Personengruppen "produzierte und angewandte Wissen" (238), unter anderem das Denken in "Wirtschaftsgroßräumen" und "Kulturen der Weltwirtschaft", einschließlich der daraus abgeleiteten "Mentalitäten". Daran anschließend setzt er sich mit den Entwicklungsstrategien der deutschen Außenhandelskreise auseinander, mit deren Hilfe sie "ganze Kulturen radikal verändern, dortige 'Mentalitäten' und Sozialstrukturen durchbrechen und den vor Ort lebenden Menschen 'reif' für die Industrialisierung machen" (277) wollten. Das vorletzte Kapitel beschreibt, wie der Begriff "Übersee" um 1970 aus dem Sprachgebrauch verschwindet, das letzte bietet ein knappes Fazit der höchst ertragreichen und innovativen Studie.
Dörre kann mit vielen interessanten Befunden aufwarten. Dazu zählen beispielweise die in Unternehmerkreisen zumindest im ersten Nachkriegsjahrzehnt weitverbreitete Idee einer "strukturell statischen Weltwirtschaft" (260), der Glaube an angebliche "Volkscharaktere" - "der Ägypter" sei "im Gegensatz zum Araber heiter" und "weltaufgeschlossen" und "denke nicht an Morgen" (262) - oder das Desinteresse an den in den 1960er Jahren "prägenden US-amerikanischen Modernisierungstheorien" (284) und an der Arbeit internationaler Organisationen (333). Überhaupt zeichneten sich manche der Stellungnahmen und Überlegungen aus bundesrepublikanischen Außenhandelskreisen durch eine kaum verhohlene Tendenz eines kulturellen Überlegenheitsdenkens aus: In den Äußerungen zu "Übersee" "enthüllen sich noch bis tief in die 1970er Jahre hinein undemokratische und zum Teil offensichtlich chauvinistische Einstellungen" (340). Wichtig schließlich auch der Befund, dass "der Prozess der Globalisierung von vergleichsweise provinzialistischen, 'un-kosmopolitischen' Akteuren gesteuert und gestaltet wurde" (341). Mit seiner unbedingt lesenswerten Studie hat der Verfasser den Kenntnisstand nicht nur zur Reintegration der Bundesrepublik in die Weltwirtschaft und zu den Triebkräften der Globalisierung, sondern auch zur Mentalität deutscher Unternehmer in den trente glorieuses ungemein bereichert.
Werner Bührer