Rezension über:

Yann Potin: Trésor, écrits, pouvoirs. Archives et bibliothèques d’État en France à la fin du Moyen Âge, Paris: CNRS Éditions 2020, 271 S., 9 s/w-Abb., 3 Tabl., ISBN 978-2-271-13239-0, EUR 25,00
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Rezension von:
Georg Jostkleigrewe
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Georg Jostkleigrewe: Rezension von: Yann Potin: Trésor, écrits, pouvoirs. Archives et bibliothèques d’État en France à la fin du Moyen Âge, Paris: CNRS Éditions 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/35046.html


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Yann Potin: Trésor, écrits, pouvoirs

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Dass ein Promotionsvorhaben nicht beendet wird, geschieht nicht selten. Dass sein Bearbeiter dennoch eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere einschlägt, geschieht nicht oft. Yann Potin, Normalien und Agrégé d'histoire, hat seine bei Claude Gauvard begonnene Thèse zum 'trésor de sapience' Karls V. - der spätmittelalterlichen Louvrebibliothek - nicht abgeschlossen. Stattdessen begann er die Ausbildung zum Archiviste paléographe, die er mit einer unveröffentlichten Arbeit zur "très longue 'mise en archive'" (18) des Trésor des chartes abschloss. Seit 2008 ist er Chargé d'études documentaires an den Archives nationales; seit 2015 ist er zugleich der Universität Paris-XIII Sorbonne-Paris-Nord als rechtsgeschichtlicher Maître de conférence verbunden.

Der hier zu besprechende Band umfasst neun Beiträge aus dem Bereich von Potins Qualifikationsarbeiten, die zwischen 1999 und 2008 in verschiedenen Kontexten veröffentlicht worden sind und durch zwei teilpublizierte Kapitel gerahmt werden. Den Gegenstand bilden drei Phänomene oder Objektgruppen, die von den mittelalterlichen Zeitgenossen als 'Schatz' begriffen werden: zum einen Sammlungen von sakralen Objekten, Preziosen und Edelmetall, zum anderen Büchersammlungen und drittens der 'Urkundenschatz' oder 'Trésor des chartes' des französischen Königtums. Dabei richtet sich der Fokus der einzelnen Kapitel auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen Schatz und Königsherrschaft.

Der Band ist in drei Großteile gegliedert. Die drei Kapitel des ersten Teils rücken konzeptionelle Fragen in den Mittelpunkt. Im ersten Kapitel plädiert Potin nachdrücklich für eine Untersuchung, die die Geschichte der königlichen Schätze nicht auf die Modernisierungserzählung einer "dérivation progressive du trésor du souverain en administration d'État" (27) reduziert, sondern deren Funktionalität aus synchronischer Perspektive zu erhellen sucht. Das zweite und dritte Kapitel thematisieren in diesem Sinne die Spannung zwischen der Nutzung des Schatzes als Ressource einer politisch-sozialen Gabenökonomie und etatistischen Patrimonialisierungstendenzen. Während auf der einen Seite das Konzept der Unveräußerbarkeit des königlichen Besitzes die praktische Nutzung des Schatzes erschwert habe, sei der symbolische Wert königlicher Vergabungen gerade dadurch gestiegen: Durch die Möglichkeit der zeitweiligen Übereignung von eigentlich unveräußerlichem, quasi-sakralem Eigentum besitze der König einen uneinholbaren Vorsprung im agonistischen Kreislauf von Gabe und Gegengabe, der ihn mit seinen Getreuen verbindet (65f.).

Die beiden folgenden Großteile widmen sich konkreter der spätmittelalterlichen königlichen Bibliothek und dem Trésor des chartes. Im vierten und fünften Kapitel diskutiert Potin anhand der erhaltenen Inventarlisten die Struktur der Louvrebibliothek, ihre räumliche Anlage sowie ihre Verwaltung. Im sechsten Kapitel untersucht er die "Plünderung" des königlichen Schatzes und der Bibliothek im Jahre 1380 durch den Regenten Ludwig von Anjou. Die Beschäftigung mit der königlichen Bibliothek weitet sich hier zu einer sehr lesenswerten Diskussion der politischen und verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen und Konflikte zwischen 1374 und 1380; Potin gelangt dabei zu einer Neudeutung des "Staatsstreichs" der Herzöge nach dem Tod Karls V.

Die fünf Kapitel des letzten Großteils befassen sich mit verschiedenen Aspekten der "mise en archive" des Trésor des chartes, der seine heutige Gestalt letztlich erst im 19. Jahrhundert erhalten hat. Im siebten und achten Kapitel zeichnet der Verfasser die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Etappen der Herausbildung und Erschließung dieses heterogenen Archivfundus nach. Das neunte Kapitel untersucht detailliert, wie die fragmentarisch überlieferten 'Enquêtes' Ludwigs IX., die nach ihrer Entdeckung durch Edgar Boutaric in der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zu einem zentralen Erinnerungsort der französischen Geschichte wurden, in den Trésor des chartes gelangten. Die vorbildliche Analyse zeigt, wie stark die Struktur der Archivbestände (und damit auch unser Bild der Vergangenheit) durch die Überlieferungsgeschichte geformt ist (198f.) - eine im Prinzip weithin akzeptierte Erkenntnis, die bei der praktischen Forschung nur allzu oft verdrängt wird. Das zehnte Kapitel untersucht die räumliche Unterbringung des Trésor des chartes und ihre Implikationen, während die kurze Konklusion vor dem Hintergrund der erzielten Ergebnisse noch einmal das Paradox der 'dokumentarischen Revolution' des 12. und 13. Jahrhunderts thematisiert: Die Zunahme des überlieferten Schriftguts zeitigt zugleich die Notwendigkeit der Selektion und Vernichtung: Wer mittels schriftlicher Praktiken regieren will, muss zugleich auch Praktiken "gegen" die überbordende Überlieferung entwickeln.

Einige zentrale Themen werden in den verschiedenen Kapiteln immer wieder diskutiert. Der Verfasser unterstreicht besonders die Rolle der verschiedenen 'Schätze' als Ressource königlicher Vergabungsakte, hebt aber zugleich die Multiformität und Polyvalenz der mittelalterlichen 'thesauri' und ihrer transzendentalen, sozialen und administrativen Funktionen hervor. Durch die überlieferten Inventare werden diese vielfältigen Funktionen und Strukturen indes nur unzureichend abgebildet, wie Potin z. B. im Blick auf die Louvrebibliothek hervorhebt:: "Les inventaires (...) dissimulent l'architecture de la bibliothèque" (107) [qui, à travers ses fonds, G. J.] "assure (...) autour de la personne du prince une conciliation de modèles culturels qui différencient les deux principaux membres de la société politique: l'aristocratie guerrière et la clergie administrative" (106). Ein besonderes Augenmerk gilt darüber hinaus dem Konzept der Unveräußerbarkeit des königlichen Besitzes, das im politischen Diskurs des 14. Jahrhunderts eine immer stärkere Geltung beansprucht, und die damit einhergehenden Patrimonialisierungs- und Fossilisierungstendenzen insbesondere des Trésor des chartes.

Die Lektüre der höchst anregenden Aufsätze lässt den Rezensenten bedauern, dass das ursprüngliche Dissertationsvorhaben des Verfassers nicht durchgeführt worden ist. Dies gilt umso mehr, als der vorliegende Band trotz seiner inhaltlichen Fokussiertheit in gewisser Hinsicht die Merkmale einer bisweilen redundanten Buchbindersynthese aufweist. Die einzelnen Kapitel sind den teils disparaten Erkenntnisinteressen ihrer ursprünglichen Entstehungskontexte verhaftet und spiegeln möglicherweise auch die Entwicklung des Verfassers wider. So vertritt er in der Konklusion die Auffassung, der Trésor des chartes verdanke seinen Namen mehr seiner räumlichen Unterbringung (in der Sakristei der Sainte-Chapelle, mithin in unmittelbarer Nähe des dortigen Preziosen- und vor allem Reliquienschatzes) als seiner Funktion (238). Diese Position steht in einer gewissen Spannung zu der anderenorts zu beobachtenden Betonung einer typologischen Entsprechung zwischen den verschiedenen Schätzen des Königtums (vgl. z. B. 142: "Conçus sur le modèle des trésors ecclésiastiques, les trésors royaux concentrent et transcendent la valeur sous toutes ses formes - reliques et joyaux, mais aussi manuscrits et archives"). Auch weisen viele Kapitel einen vorrangig konzeptionellen und tentativen Charakter auf, wobei sich die verwendeten Begrifflichkeiten durch einen hohen Grad an Metaphorizität auszeichnen (vgl. etwa 137: "Réceptacle des ressources et des documents secrets (...), la cassette du prince est le lieu d'une tension, entre la majesté et la dissimulation, entre le visible et l'invisible, entre le secret et la révélation du secret, entre l'intérieur et l'extérieur du pouvoir"). In solchen Fällen fehlt dem Rezensenten manchmal (keineswegs immer!) eine Rückbindung an die Quellen bzw. eine klare Unterscheidung zwischen Deutungen des Verfassers und Auffassungen der mittelalterlichen Zeitgenossen. Handelt es sich bei den betreffenden Formulierungen um moderne historisch-anthropologische Interpretamente, um Auffassungen einiger weniger Zeitgenossen oder um weitverbreitete Vorstellungen?

Ungeachtet solcher Nachfragen stellt die Lektüre des Bandes für jeden Leser eine Bereicherung dar, der sich mit der Wahrnehmung und Funktion mittelalterlicher Schätze und vor allem den Bibliotheken und Archiven des französischen Königtums beschäftigen möchte.

Georg Jostkleigrewe