Stephen Kelly: Margaret Thatcher, the Conservative Party and the Northern Ireland Conflict, 1975-1990, London: Bloomsbury 2021, XVIII + 390 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-1-3501-1537-8, GBP 85,00
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Im Herbst 2021 konnte der "Würstchenkrieg" noch einmal abgewendet werden. Die Auseinandersetzung zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich um die konkrete Anwendung des Nordirland-Protokolls ließe sich als skurriles Nachhutgefecht abtun, das insbesondere für Liebhaber völkerrechtlicher Quisquilien Sternstunden juristischen Feinschliffs bereithält. Doch entbehrt es nicht einer bitteren historischen Ironie, dass ausgerechnet die irische Frage, die wie keine zweite seit Mitte des 19. Jahrhunderts die britische Innenpolitik bedrängte, nun auch das letzte Kapitel des Brexit überschattet. Der blutige Bruderzwist, der Ende der 1960er Jahre um den Status von Ulster ausbrach und erst mit dem Karfreitagsabkommen 1998 beigelegt wurde, kostete über 3500 Menschen ihr Leben und beschädigte den Ruf der politischen Klasse Großbritanniens, selbst schwerwiegende Konflikte vergleichsweise pragmatisch beizulegen.
Stephen Kelly stößt in dasselbe Horn, wenn er gleich zu Beginn seiner recht klassisch konfektionierten Studie über die Irlandpolitik Margaret Thatchers deren Haltung Ulster gegenüber als "powerful blend of reactionary policies and personal indifference" (1) apostrophiert. Dieses Urteil steht freilich im Widerspruch zu vielen Details, die Kelly selbst im Laufe seiner Untersuchung zutage fördert. Ohne Frage bedeuteten die troubles sowohl für die Oppositionsführerin wie für die Premierministerin ab 1979 eine "irritating distraction to more pressing economic matters" (17), die den Angelpunkt von Thatchers Agenda bildeten. Mehrfach befasst sich Kelly mit Thatchers Haltung als in der Wolle gefärbte Unionistin, deren methodistische Prägung die Verästelungen der irischen Identitätspolitik wie eine fremdartige Verirrung balkanischer Dimensionen erscheinen ließ.
Seit der Suspendierung des nordirischen Parlaments in Stormont 1972 wurde die Unruheprovinz im spätkolonialen Modus direkt aus London regiert, was bei allen Konfliktparteien auf Unverständnis stieß. Für die Konservative Partei ergaben sich aus dieser Gemengelage zwei Prinzipien: Erstens genossen Sicherheitsbelange Priorität, weshalb der Konflikt nur durch einen Sieg über die Irisch-Republikanische Armee (IRA) dauerhaft gelöst werden könne. Und zweitens müsse Ulster integraler Bestandteil des Vereinigten Königsreichs bleiben und die direct rule möglichst rasch enden. Allerdings warf dieser Punkt die vertrackte Frage auf, ob es eine Mehrheitsregierung - nach Geschmack der Ulster Unionists - oder eine Einheitsregierung geben solle, die auch der katholischen SDLP Einfluss auf die Exekutive böte. Die Ermordung Airey Neaves, im Schattenkabinett für Nordirland zuständig, kurz vor Thatchers Wahlsieg 1979 konfrontierte die Eiserne Lady obendrein mit der persönlichen Drangsal des blutigen Konflikts.
Als Premierministerin traf Thatcher in Charles Haughey auf einen Taoiseach, der Nordirland als failed state betrachtete und aus seinen republikanischen Ambitionen keinen Hehl machte. Als Haughey nach einem Gipfeltreffen mit Thatcher Ende 1980 vor der Presse der "optics of illusion" (124) die Zügel schießen ließ und wahrheitswidrig suggerierte, London habe weitreichende verfassungsrechtliche Zugeständnisse offeriert, war das Tischtuch zwischen beiden Regierungschefs zerschnitten. Verschärft wurde die Situation durch den zweiten Hungerstreik republikanischer Häftlinge im berüchtigten Maze-Gefängnis. Angeführt von Bobby Sands, bis heute eine Ikone des irischen Widerstands gegen die Briten und in einem famosen Public-Relations-Coup bei einer Nachwahl ins Parlament von Westminster gewählt, starben im Frühjahr 1981 zehn verurteilte Straftäter, die für den Status als politische Gefangene und andere Privilegien kämpften. Die "Thatcherite moralistic language" (135) vermochte die brutale Aktion nicht zu stoppen, zumal der Premierministerin stets unnachgiebige Unionisten wie Ian Paisley im Nacken saßen. Kelly referiert den Forschungsstand zu der Frage, weshalb Sinn Fein, der politische Arm der IRA, diese suizidale Strategie duldete. Letztlich dürfte es die "Armalite and Ballot box strategy" (Danny Morrison) gewesen sein, die den Nationalisten langfristig einen Platz am Verhandlungstisch sicherte. Mit Erleichterung hingegen reagierte Whitehall auf den neuen Taoiseach Garret FitzGerald, der im Unionismus nicht das verblendete Andere sah und zu einem game changer avancierte. Die britische Politik wurde ihrerseits zusehends von der Furcht umgetrieben, radikale Unionisten wie Paisley könnten die gemäßigte Ulster Unionist Party und Sinn Fein die SDLP überflügeln. Dennoch sträubten sich die Verantwortlichen lange gegen die Kernforderung Dublins, in Fragen Nordirlands zu Rate gezogen zu werden.
Erst die Gespräche zwischen den Topbeamten Robert Armstrong und Dermot Nally ebneten 1984/85 den Weg zum Anglo-Irischen Abkommen. Hinter diesem stand nicht zuletzt eine "gradual metamorphosis" (209) in den Vereinigten Staaten. Hatte sich Präsident Ronald Reagan zunächst die traditionelle Abstinenz amerikanischer Präsidenten in irischen Angelegenheiten auferlegt, so verschob sich durch die Gründung der Pressure-Group The Friends of Ireland 1981 das politische Kräfteparallelogramm. Granden des Kongresses wie Tip O'Neill und Ted Kennedy, aber auch ein junger Senator aus Delaware, Joe Biden, drängten Reagan, bei Thatcher vorstellig zu werden, damit diese Dublin entgegenkomme. Obwohl das britische Kabinett tief gespalten war in Bezug auf die richtige Strategie für Ulster, gebot Thatcher nach dem Falklandkrieg und dem triumphalen Wahlsieg 1983 über die nötige Autorität, das Abkommen 1985 durchzusetzen, was sie alsbald bereute, zumal ihr Unionisten wütend den Ausverkauf nordirischer Interessen vorwarfen. Kelly würdigt es aber zu Recht als "major breakthrough" (224) in den festgefahrenen Beziehungen zwischen London und Dublin. Eine Friedensdividende ließ jedoch auf sich warten: In den Jahren nach dem Vertragsschluss stieg die Zahl der von republikanischen oder loyalistischen Terroristen Ermordeten sprunghaft an.
Kelly analysiert noch einen weiteren dunklen Aspekt der troubles, der Großbritannien bis in die jüngste Vergangenheit hinein beschäftigte, nämlich die Frage, ob es eine Shoot-to-Kill-Politik gegeben habe, der republikanische Sympathisanten oder Terroristen zum Opfer fielen. Insbesondere die Ermordung des Belfaster Anwalts Pat Finucane 1989 legte die im Rahmen einer Untersuchung erst 2012 bestätigte Vermutung nahe, dass offizielle Stellen in London loyalistische Todesschwadronen mit Informationen versorgten, welche diese in ihrem blutigen Kampf gegen Republikaner nutzten. Das Bonmot eines Beraters Tony Blairs, der 2002 im Kontext des Anti-Terror-Kriegs dafür plädiert hatte, im Dschungel auch das Gesetz des Dschungels walten zu lassen, schien demnach schon während des Irlandkonflikts Anwendung zu finden. In den Jahren bis zu Thatchers Rücktritt im November 1990 war es vor allem Nordirland-Minister Peter Brookes, der mithilfe zum Teil unkonventioneller Vorschläge die nächste Etappe im Friedensprozess anbahnen wollte. Geprägt von einem erweiterten Sicherheitsbegriff sah sein Konzept Gespräche selbst mit den paramilitärischen Verbänden vor, welche es ermöglichen sollten, die komplexen ökonomischen, sozialen und sicherheitspolitischen Probleme Ulsters umfassend zu lösen. Der Fall der Berliner Mauer eröffnete hierbei auch für Nordirland neue strategische Perspektiven.
Gerade die letztgenannten Aspekte kommen in Kellys Darstellung zu kurz. Der Irlandkonflikt wird aus der Perspektive der Kabinette in Dublin und London beschrieben. Ein differenzierterer Blick auf die Grüne Insel hätte auch Kellys eigentlichen Untersuchungsgegenstand klarer konturiert. Wenn gegenwärtig etwa zwei Drittel der Iren in der Republik eine Wiedervereinigung befürworten, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Dublin nicht die Subventionen Londons für Ulster übernehmen müsse - auch ein zentrales Moment in Thatchers Überlegungen -, während in den sechs Provinzen die Zahl jener, die ein Referendum über die Vereinigung mit dem Süden befürworten, seit dem Brexit kontinuierlich steigt, wird deutlich, dass die troubles eine äußerst komplexe soziopolitische Landschaft zurückgelassen haben. Eine besondere Pointe in diesem Zusammenhang stellt der profunde Wertewandel in Éire dar: Als erstes Land weltweit führte Irland die gleichgeschlechtliche Ehe per Referendum ein, während Teile der UUP in sozialmoralischen Fragen eine strikt traditionelle Linie verfolgen. Und dass Sinn Fein bei den irischen Wahlen 2020 nach Jahrzehnten elektoraler Bedeutungslosigkeit zur stärksten Partei wurde, ist ein Hinweis auf die Verschiebungen, welche die Verantwortlichen in Dublin und London vor neue Herausforderungen stellen werden.
Gerhard Altmann