Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand, Wien: Promedia Verlagsgesellschaft 2021, 192 S., ISBN 978-3-85371-496-6, EUR 19,90
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Muriel Asseburg: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2021, 365 S., 10 Kt., 21 Abb., ISBN 978-3-406-77477-5, EUR 16,95
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Moshe Shner: In the Beginning There was the Holocaust. A Spiritual Journey Back into the Abysses of Jewish History , Jerusalem: The Hebrew University Magnes Press 2013
Oren Yiftachel: Landed Power. Israel/Palestine between Ethnocracy and Creeping Apartheid, Tel Aviv: Resling 2021
Ben Caspit: The Netanyahu Years. Translated by Ora Cummings, New York: St. Martin's Press 2017
Ist Palästina 2021 ein real-existierendes, definierbares Territorium? Die beiden hier besprochenen Publikationen tragen den Begriff immerhin schon im Titel. Die Autorinnen, Helga Baumgarten und Muriel Asseburg - deutsche Politikwissenschaftlerinnen mit dem Schwerpunkt Israel/Palästina - nehmen die palästinensische Perspektive ein; ihr territoriales Verständnis ist entsprechend. Damit setzten sie sich klugerweise über den toxischen Diskurs hierzulande hinweg und erzählen souverän die Geschichte der Katastrophe eines Volkes, dem seit Jahrzehnten kontinuierlich und unter den Augen der internationalen Gemeinschaft der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Ihr Untersuchungsobjekt definiert Asseburg so: "Mit Palästina ist hier das Territorium des gleichnamigen ehemaligen britischen Mandatsgebiets gemeint, oftmals auch als historisches Palästina bezeichnet" (10). Die Palästinenser zerfallen in drei Gruppen: Staatenlose in den besetzten Gebieten, israelische Staatsbürger innerhalb des Kernlands und Palästinenser, die in der Diaspora leben. Das palästinensische Volk bzw. das historische Palästina legt sie ihrer Arbeit zugrunde und bietet damit ein Spiegelbild von Israels zionistischer Staatsideologie. Die israelische Seite bleibt trotz der überragenden Relevanz für die hier erzählte Geschichte gänzlich außer Acht, sodass die große Frage nach dem Warum nicht einmal gestellt wird. Das Kompendium ist ereignisgeschichtlich orientiert. In großer Informationsdichte - mit aussagekräftigen Karten und bewegenden Porträts palästinensischer Persönlichkeiten - wird hier eine über Jahrzehnte andauernde Opfergeschichte erzählt, geprägt "von Krieg, Konflikt, Vertreibung, Verlust und Exil sowie von einem bis heute unerfüllten Streben nach nationaler Selbstbestimmung" (11).
Der erste Abschnitt - "Die Gründung Israels und ihre Folgen" - beschreibt die prägende Urkatastrophe 1948, die Nakba: Mit dem ersten israelisch-arabischen Krieg eroberte Israel 78 Prozent Palästinas und vertrieb etwa 750.000 arabische Einwohner aus dem nunmehr israelischen Staatsgebiet. Im Kapitel "Die palästinensische Nationalbewegung" behandelt die Autorin die Anfänge der Herausbildung einer eigenständigen palästinensischen Identität, mithin die Gründung der wichtigen politischen Organisationen zur Befreiung Palästinas wie der Fatah und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die allerdings zumeist im und aus dem Exil agieren mussten. Der dritte Abschnitt "Der Sechstagekrieg 1967" gilt als wichtige Zäsur: Der zweite Rückschlag, die Naksa, bedeutete nämlich den Verlust Rest-Palästinas. Israel kontrolliert seither nicht nur das ganze Land und seine Menschen, es erhebt dazu Anspruch auf diese Gebiete als Teil von Eretz Israel. Die Nachkriegsgeschichte ist daher geprägt von Vertreibung, Besatzung, Siedlungspolitik und regionalen Kriegen.
Der palästinensische Widerstand ließ nicht auf sich warten, und zwar in Form der Ersten Intifada, die im vierten Kapitel beschrieben wird. Diese war gekennzeichnet von vorwiegend gewaltlosen Generalstreiks gegen das Besatzungsregime, aber sie brachte auch den Aufstieg islamischer Kräfte wie der 1988 gegründeten Hamas mit sich. Auf diese fünf Jahre dauernde zivile Revolte folgten dann die im fünften Kapitel erörterten "Friedensverhandlungen und Selbstverwaltung". Hier geht es um den Oslo-Prozess der 1990er Jahre, dessen Scheitern im Jahr 2000 die Zweite Intifada nach sich zog - ein bewaffneter Aufstand, der schließlich von der Besatzungsmacht niedergeschlagen wurde.
Das neue Millennium ist nicht zuletzt geprägt von der Spaltung des palästinensischen Lagers in die Fatah in Rahmallah und die Hamas in Gaza, von israelischen Gaza-Blockaden, von immer brutaleren Gaza-Kriegen. In den letzten beiden Kapiteln "Blockaden und die Suche nach alternativen Strategien" und "Gegenwärtige Situation und Möglichkeiten einer Konfliktregelung" stellt Asseburg eine Reihe palästinensischer Ansätze gegen die Besatzungsmacht Israel dar: die Internationalisierung des Konflikts, den Volkswiderstand oder die weltweit ausgerichtete Boykottbewegung, der ein schwerwiegender Vorwurf zugrunde liegt: Israel betreibe nichts anderes als eine Politik der Apartheid.
Während Asseburgs beschreibender Erzählstil Israel als Akteur fast gänzlich ausblendet, setzt sich Baumgarten in ihrem streitbaren Essay kritisch mit drei zentralen Begriffen auseinander: Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung und Apartheid-Staat. Nachdem sie in einem ersten Kapitel über die Jahre zwischen 1948 und 1967 die geschichtsträchtige Nakba anhand einiger prominenter Figuren illustriert hat, geht Baumgarten über zu ihren Leitbegriffen: "Siedlerkolonialismus versucht mit allen Mitteln, durchaus wechselnd nach politischen Umständen, die kolonisierte Bevölkerung zu eliminieren, ob durch Massaker oder Kriege, ob durch direkte oder indirekte Vertreibung. Hier muss eine Linie von [Massaker] Lydda im Juli 1948 bis Scheikh Jarrah [Vertreibung aus Ost-Jerusalem] 2021 gezogen werden." (33)
Mit dem Begriff ethnische Säuberung bezieht sich Baumgarten nicht zuletzt auf ein Buch des israelischen Historikers Ilan Pappe [1], auf Nur Masalhas Werk "The Expulsion of the Palestinians" [2] und auf das berühmte Interview mit dem israelischen Historiker Benny Morris, das unter dem Titel "Survival of the Fittest" 2004 in der Zeitung "Haaretz" erschienen ist [3]. Die Wertung Israels als Apartheid-Staat stützt Baumgarten nicht zuletzt auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und B'Tselem.
Baumgarten skizziert die "Besatzung zwischen Juni-Krieg und Erster Intifada" zwischen 1967 und 1987 und den Weg zum politischen Prozess um die Palästina-Frage zwischen der Ersten Intifada und Oslo (1987 bis 2004). Der Friedensprozess sei freilich durchgehend beeinträchtigt worden: Massaker in Hebron sowie Selbstmordattentate der Hamas, "Siedlungserweiterungen und Siedlerkolonialismus" (100), Israels "Zerstörungspolitik" sowie "Liquidierung der historischen Führung der Nationalbewegung: Scheikh Ahmad Yasin und Yasir Arafat" (108) in der Zweiten Intifada. Auch die Spaltung zwischen Gaza und Rahmallah - geschildert im Kapitel "Die Wahlen 2004-2006" - sieht Baumgarten im Kontext vom "repressiven und menschenverachtenden Besatzungsregime" (129).
Doch inwiefern dient Israels destruktive Politik dem Siedlerkolonialismus und der ethnischen Säuberung? Baumgartens Irritation über Israels steigende Gewaltbereitschaft drückt sich vor allem aus im abschließenden Kapitel "Israels langer Krieg gegen Gaza: 2006-2021". Mit einer gehörigen Portion Wut thematisiert sie die Angriffe der Jahre 2008, 2012, 2014 und 2021. Israels militärische, gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Gewalt (Dahiya) versteht Baumgarten als "Staatsterror" (162). Dabei lehnt sie Israels Argument der Selbstverteidigung entschieden ab: "Gaza ist für Israel das Versuchsfeld nicht nur für immer neue Waffen und immer neue Instrumente der Unterdrückung. In Gaza testet Israel auch seine Manipulationen des Humanitären Völkerrechtes gekoppelt mit einer effektiven PR und Propaganda-Maschine." (163) Deshalb herrsche im Gaza der "Zustand des Un-Lebens" (166).
Was bleibt vom historischen Palästina nach 73-jähriger israelischer Souveränität? Auch in den beiden Neuerscheinungen nur wenig. Doch geben allein die Schlüsselbegriffe Siedlerkolonialismus, ethnische Säuberung und Apartheid-Staat Wesen und Mechanismen des zionistischen Israels adäquat wieder? Israels historisch gewachsenes politisches System marginalisiert die palästinensische Perspektive gänzlich: mit einer zionistischen Staatsideologie, die das Land Israel beansprucht, mit unangefochtenem Zivilmilitarismus, der Kriegspolitik und Besatzung ermöglicht. Kurzum: mit ausgeprägtem jüdischen Nationalismus, dem nicht zuletzt eine von der Shoah geprägte politische Erinnerungskultur zugrunde liegt. Dieses geschlossene Denksystem ist in absehbarer Zeit von innen kaum zu durchbrechen. Zu Recht setzen Asseburg und Baumgarten neben dem palästinensischen Widerstand auf die internationale Gemeinschaft. Sie wird sich auch in Zukunft mit der Palästina-Frage befassen müssen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ilan Pappe: The Ethnic Cleansing of Palestine, Oxford 2006.
[2] Vgl. Nur Masalha: Expulsion of the Palestinians: The Concept of "Transfer" in Zionist Political Thought, 1882-1948, Washington 1992.
[3] Vgl. Haaretz vom 8.1.2004: "Survival of the Fittest"; www.haaretz.com/1.5262454 (26.10.2021)
Tamar Amar-Dahl