Rezension über:

Martin Conway: Western Europe's Democratic Age. 1945-1968, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2020, XIV + 357 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-20348-5, USD 35,00
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Rezension von:
Annelie Ramsbrock
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)
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Annelie Ramsbrock: Rezension von: Martin Conway: Western Europe's Democratic Age. 1945-1968, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 12 [15.12.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/12/35740.html


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Martin Conway: Western Europe's Democratic Age

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Westeuropas demokratische Ordnungen sind gleichermaßen Geschichte und Gegenwart - so jedenfalls könnte das Resümee nach der Lektüre des neuen Buches von Martin Conway lauten. Mit Western Europe's Democratic Age hat er allerdings, anders als der Titel es suggeriert, keinen Nachruf auf jenes Europa geschrieben, dem seit der Jahrhundertwende vielfach eine Krise und teils sogar sein Ende bescheinigt wird. Stattdessen bietet Conway eine Demokratisierungsgeschichte, die zeigen will, warum jene demokratischen Ordnungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Teilen Westeuropas entstanden, lange Zeit so stabil sein und zum politischen Status quo werden konnten.

Die Frage danach, warum etwas funktioniert hat, wird in der Geschichtswissenschaft seltener gestellt als die Frage danach, warum etwas nicht funktioniert hat. Bezogen auf die Demokratisierung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Antwort auch längst gegeben zu sein. Das Bedürfnis, nie wieder ein derartiges Ausmaß an Brutalität erleben zu müssen, wie Faschismus und Krieg es hervorgebracht hatten, stabilisierte eine Gesellschaftsordnung, die, auf Volkssouveränität als einem verfassungsrechtlichen Charakteristikum gründend, Gewalt und Repression am besten zu verhindern wusste.

Es ist zweifelsohne ein Verdienst Martin Conways, sich mit diesem Narrativ nicht zufrieden zu geben, sondern den Erfolg der Demokratie, verstanden als ihr andauerndes Bestehen, als Teil einer Problemgeschichte Westeuropas zu denken. Um das Spezifische der europäischen Demokratien nach 1945 zu verstehen, so die Grundannahme Conways, müsse man den transnationalen Raum des liberal-demokratischen Konsenses "on its own terms" untersuchen: "neither as simply defined by the past - even when that past was as overwhelming as that of the Second World War - nor as simply the political vessel of Western Europe's post-war socio-economic modernization" (15 f.). Die Hinwendung zur Demokratie, so Conway weiter, sei vielmehr (wenn nicht vor allem) pragmatischen Mechanismen gefolgt, um die zahlreichen ideologischen, politischen und konfessionellen Spaltungen zu überbrücken und die verschiedenen materiellen Interessen einzuhegen.

Um diese Mechanismen aufzeigen und analysieren zu können, hat Conway fünf Kapitel konzipiert (Making Democracy, Thinking Democracy, Debating Democracy, Living Democracy und Contesting Democracy), die sich thematisch überlappen, aber dennoch eine chronologisch angelegte Erzählung erkennen lassen. Sie beginnt mit dem politischen Wiederaufbau nach 1945 und endet mit der kritischen Hinterfragung des politischen Systems um "1968".

Zunächst untersucht Conway den Übergang vom Krieg zur Demokratie in Westeuropa als Zusammenspiel von vier dominierenden Kräften: dem Handeln der Mächte, die Europa befreiten und anschließend besetzten; der erfolgreichen Neugründung nationaler staatlicher Strukturen; der damit einhergehenden Demobilisierung und Marginalisierung eher lokal verankerter oder informeller politischer Autoritäten; und der Wiederentstehung einer Struktur politischer Parteien, die zusammen mit einer Reihe anderer gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen zu den wichtigsten Vermittlern demokratischer Gesellschaftsordnungen wurden. Sicherlich: Dass Restauration statt Revolution den Wiederaufbau Westeuropas bestimmte, lässt sich auch anderswo lesen. Doch führt Conway seinen Leserinnen und Lesern in einer bestechend nüchternen Art und Weise vor Augen, dass Making Democracy vor allem die parteipolitisch arrangierte Wiederbelebung bereits bestehender ideologischer, konfessioneller und sozialer Strukturen bedeutete.

Welche Vorstellungen von Demokratie in Westeuropa verhandelt wurden, schildert Conway in einem zweiten Schritt. Thinking Democracy bedeutete demnach, Anknüpfungspunkte für das eigene politische Ordnungsdenken zu finden. Abgrenzung war dabei das Mittel der Wahl: von der "Volksdemokratie" als Systemalternative ebenso wie von der amerikanischen Demokratie, die, von Rassenproblemen und Verschwörungstheorien geprägt, kaum Vorbildcharakter hatte. Abgrenzung bedeutete aber zugleich, dass eine substanzielle Debatte darüber, was Demokratie ist und sein sollte, einstweilen ausblieb. Die politischen Eliten, mit denen Conway sich befasst, seien ausgesprochen vorsichtig und phantasielos gewesen und hätten sich in rhetorische Universalismen gerettet, wenn es darum gegangen sei, Demokratie mit Inhalt zu füllen. Auch deshalb seien nationale Narrative des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach 1945 nicht verklungen, wobei vor allem sozialistische und christdemokratische Positionen um Deutungshoheit gerungen hätten.

Letztlich sei Westeuropa eine Klassengesellschaft geblieben, die sich um die Mittelschicht herum konstituiert habe. Die Wirtschaft, das politische Leben und die Ressourcen des Staates seien so ausgerichtet gewesen, dass sie deren Interessen gedient hätten. Die Demokratie hätte der Mittelschicht somit gleichermaßen einen safe space und das Angebot zum Regieren geboten. Dieses Modell einer eher begrenzten und sorgfältig strukturierten demokratischen Regierung, das in den meisten westeuropäischen Demokratien vorherrschte, fand Ende der 1960er Jahre, als die Sozialen Bewegungen nach einer breiteren gesellschaftlichen Partizipation verlangten und alternative Konzepte von Gesellschaft vorstellten, nicht mehr den gleichen Rückhalt bei der Bevölkerung wie noch Jahrzehnte zuvor. Auch diese Entwicklung beschreibt Conway vor allem als eine Sache der politischen Aushandlung, wenngleich er ihren neuartigen Charakter hervorhebt. Die Bruchlinien seien nicht mehr zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden verlaufen, sondern zwischen den Verteidigern des politischen Status quo und denjenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen versucht hätten, das bestehende Demokratiemodell zu reformieren und zu verändern. "What changed", so Conway, "was that the debate about democracy became, so to speak, a debate within democracy" (256). Die Friktionen, die sich zwischen den staatlichen Institutionen und staatskritischen Teilen der Bevölkerung entwickelt hatten, seien nicht mehr zu leugnen gewesen. Westeuropa hatte das Ende seines demokratischen Nachkriegszeitalters erreicht.

In dieser Denkfigur findet sich letztlich die Antwort auf die Frage, warum die europäischen Demokratien so stabil sein konnten, oder anders formuliert, warum das, was als große Improvisation nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, immer mehr Kohärenz erlangte. Es sei neben den politischen Parteien vor allem die Schaffung mehrerer, sowohl vertikal als auch horizontal miteinander verbundener staatlicher und gesellschaftlicher Gruppierungen und Organisationen gewesen, die an der demokratischen Willensbildung teilhatten und dafür Sorge trugen, dass die Demokratie in Westeuropa eine parlamentarische, durch Verfahren geprägte Demokratie geworden sei.

Diese Entwicklung in ihren feinen Verästelungen aufzuzeigen ist ohne Zweifel eine beachtliche Leistung des Buches. Allerdings verbirgt sich dahinter zugleich seine Schwäche. So hebt Conway zwar hervor, dass das Volk, anders als man es von einer pluralistischen demokratischen Kultur erwarten kann, in der westeuropäischen Demokratie bisweilen seltsam abwesend gewesen sei, doch ändert das nichts daran, dass sich eben diese Abwesenheit von Menschen auch in der Konzeption des Buches spiegelt. Es ist sicher nicht falsch, zu "doing democracy" (11) vor allem die Praxis des Wählens auf nationaler und lokaler Ebene zu zählen, doch liegen inzwischen durchaus gewichtige Studien vor, die Demokratie als Erfahrungsraum konzipieren und zeigen, dass solche individuellen wie kollektiven Erfahrungen mit der Demokratie nicht weniger über den westeuropäischen Demokratisierungsprozess aussagen als die diese begleitenden (partei-)politischen Strukturen. Schließlich gründet die "Funktionsfähigkeit" der Demokratie bekanntlich nicht nur in den Parlamenten, sondern ist immer auch von "bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen" wie einer "gemeinsamen Grundauffassung der Bürger über die Art und Ordnung ihres Zusammenlebens" abhängig, wie nicht zuletzt Ernst-Wolfgang Böckenförde dies auf den Punkt brachte [1].

Und dennoch: Martin Conway hat eine mustergültige Politik- und Ideengeschichte der Demokratisierung Westeuropas konzipiert, die den größten Respekt verdient. Seine bemerkenswert breite internationale Belesenheit beeindruckt ebenso wie die (darauf gründende) beispielhafte Komplexität der Analyse. Und nicht zuletzt hinterlässt seine Erzählung auch deshalb einen bleibenden Eindruck, weil sie in subtiler Weise jenem pragmatischen Mechanismus folgt, mit dem Conway die Demokratisierung Europas erklärt.


Anmerkung:

[1] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hgg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Verfassungsstaat, 3., erweiterte Aufl., Heidelberg 2004, 429-496, hier 434.

Annelie Ramsbrock