Rezension über:

Alexa Geisthövel / Bettina Hitzer (Hgg.): Auf der Suche nach einer anderen Medizin. Psychosomatik im 20. Jahrhundert (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2264), Berlin: Suhrkamp 2019, 549 S., ISBN 978-3-518-29864-0 , EUR 26,00
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Rezension von:
Tobias Weidner
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Weidner: Rezension von: Alexa Geisthövel / Bettina Hitzer (Hgg.): Auf der Suche nach einer anderen Medizin. Psychosomatik im 20. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 1 [15.01.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/01/35736.html


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Alexa Geisthövel / Bettina Hitzer (Hgg.): Auf der Suche nach einer anderen Medizin

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Die Geschichte psychosomatischer Ansätze in der deutschen Medizin des 20. Jahrhunderts trifft einen Nerv. Dass es bislang keine Gesamtdarstellung zum Thema gab, muss fast schon überraschen: Psychosomatische Ansätze haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts sukzessive ausgebreitet und damit auch schon lange vor ihrem Boom in den 1970er Jahren in allen politischen und gesellschaftlichen Konstellationen eine Rolle gespielt. Als medizingeschichtliche Sonde erweist sich die Psychosomatik als besonders gewinnbringend, weil die einschlägigen Akteurinnen und Akteure sich "auf der Suche nach einer anderen Medizin" unermüdlich an den Aporien einer zunehmend vernaturwissenschaftlichten "modernen Medizin" abarbeiteten und damit ex negativo Grundsignaturen der Geschichte von Medikalisierung und Professionalisierung in den Blick rücken. Gegen die "lokalistisch[e]" und "kausalmechanistisch[e]" Zergliederung des Kranken führten sie den Blick "auf den 'ganzen' Menschen" (z. B. 15) ins Feld, was in historischer Perspektive wiederum aufschlussreiche Perspektiven auf Menschenbilder und Gesellschaftsdiagnosen eröffnet.

Diese Themen führen an die Schnittstellen von Wissenschafts-, Politik- sowie Körpergeschichte und damit ins Zentrum aktueller Fragen der Zeitgeschichte. Entsprechend konnten die Herausgeberinnen zahlreiche Autorinnen und Autoren für den Band gewinnen, die sich auf hohem Niveau der Herausforderung stellen, eine Kulturgeschichte der Verflechtung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Transformationen des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Das Personentableau weist einen hohen Anteil von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf, die sich, wie die Herausgeberinnen, medizinischen Themen zugewandt haben. Vertreten sind Historiker wie Jakob Tanner, Volker Roelcke und Cornelius Borck, die das medizin- und wissenschaftshistorische Feld in den letzten Jahren geprägt haben. Außerdem wurde eine Reihe von Spezialistinnen und Spezialisten für einzelne Akteure des psychosomatischen Feldes gewonnen, die sich mit biographisch angelegten Arbeiten hervorgetan haben (z.B. Tobias Freimüller zu Alexander Mitscherlich).

Dabei ist es den Herausgeberinnen gelungen, die rund zwei Dutzend Beitragenden in einen intensiven Austausch zu bringen. Die Texte stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sind häufig durch Querverweise und wiederkehrende Argumente verbunden. Dabei bleibt die Bandbreite an Erzählweisen groß: Sie reicht von einer Miniatur zur "Couch" als "materielle[m] Setting" der Psychoanalyse (Uffa Jensen) bis hin zu biographisch angelegten Skizzen einzelner Psychosomatiker wie Horst-Eberhard Richter (Jens Elberfeld) oder Thure von Uexküll (Volker Roelcke). Daneben sind Artikel zu bestimmten Krankheiten (auch jenseits der prominenten "holy seven" der Psychosomatik) [1] und einzelnen Methoden wie der Körpertherapie (Pascal Eitler) oder zur Selbsthilfe-Ratgeberliteratur (Maik Tändler) enthalten. Weiterhin erfolgen disziplinäre Seitenblicke, z.B. auf die im Band durchgehend stark betonte Kybernetik (Jakob Tanner). Das Buch gerät damit zu einer abwechslungsreichen Lektüre und profitiert - wie Sammelbände das häufig tun - von breit verteilter Kompetenz. Zugleich - und das gelingt seltener - lässt es sich auch als genuiner Forschungsbeitrag aus einem Guss lesen.

Auch die Verwendung als Handbuch ist vorgesehen: Gesamtbibliografie, Sach- und Personenregister umfassen allein 85 Seiten. Geisthövel und Hitzer tragen zehn Texte bei, die zusammengenommen monografischen Umfang haben. Besonders hervorzuheben sind die Rahmenkapitel zur "Vor- und Frühgeschichte" der Psychosomatik (1850/90-1945), zu den "Gezeiten der Anerkennung" (1945-1970), die vom Ringen um Wissenschaftlichkeit geprägt waren, und zur "[e]ndgültige[n] Etablierung" (1970-2000). Sie lassen sich nicht nur als bestens lesbare Einführung nutzen, sondern geben den anderen Artikeln einen strukturierenden Rahmen.

Anstelle eines Referats der zahlreichen Einzelthemen soll der Fokus hier auf dieser Strukturierung liegen: Wie wird die Geschichte eines so vielschichtigen Phänomens gebündelt und wie wird es als historischer Gegenstand konturiert? Letzteres ist eine besondere Herausforderung, bedenkt man, dass selbst die großen statistischen und psychiatrischen Klassifikationssysteme der Gegenwart sich schwer damit tun, "Psychosomatisches zu klassifizieren" (im Band dazu Lara Keuck). Die Beitragenden nehmen einen Mittelweg und rücken einerseits die Entstehung eines dezidierten psychosomatischen Projekts in den Blick. Andererseits legen sie Koordinaten zugrunde, die bestimmte Themen ein- und andere ausschließen: Die Autorinnen und Autoren beschränken sich auf Ansätze, die auf den "medizinischen und psychologisch-psychoanalytischen State of the Art" ausgerichtet blieben, "um auf diesen einzuwirken", aber zugleich "die Einheit von Körper und Psyche ausdrücklich systematisch und reflexiv einholen" (12). Eine Art psychosomatische Geburtsstunde wird für die Zeit um 1900 konstatiert - allerdings konsequenterweise nicht mit Blick auf die Lebensreform, die ja eine Fülle einschlägiger Ansätze hervorbrachte, die aber dezidiert jenseits der naturwissenschaftlich orientierten Medizin lagen. Bezugspunkt bleibt auch hier die naturwissenschaftliche Medizin, der zu dieser Zeit eine massive Krise zugeschrieben wurde.

Die Vorgeschichte des Aufstiegs der Psychosomatik hingegen gerät sehr knapp. Nicht einmal der überbordende Schulstreit zwischen den sogenannten Psychikern und Somatikern im Vormärz wird abgehandelt. Eine weiter gefasste, an den vielfältigen Traditionslinien der Psychosomatik interessierte Darstellung müsste die nachhaltig wirkenden diskursiven Grundmuster solcher Debatten stärker einbeziehen, aber auch Holismen ernster nehmen, die noch radikaler in Opposition zur naturwissenschaftlichen Medizin standen. Der Fokus auf Verwissenschaftlichungs- und Institutionalisierungsprozesse eines eng gefassten psychosomatischen Projekts hat jedoch arbeitspragmatische Vorteile.

So kann der Band eine große Breite des therapeutischen Spektrums der Psychosomatik für das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die NS-Zeit, die Bundesrepublik und die DDR abdecken. Er bettet sie sorgfältig in gesellschaftliche wie "innermedizinische Reformprozesse" (326), medizinkritische und antipsychiatrische Diskurse ein. Die gewählte Eingrenzung des Bandes auf die deutschen Staaten ist aufgrund ihrer spezifischen Lage im Kalten Krieg und der besonderen vergangenheitspolitischen Dynamiken, die aus den Verstrickungen der Medizin mit dem Nationalsozialismus resultierten, konzeptionell sinnvoll. Ohne die strikten Begrenzungen des Gegenstandes wäre eine so tiefgehende Analyse der vielfältigen Konstellationen kaum möglich gewesen. Die rund 550 Seiten des Bandes sind zudem erstaunlich redundanzarm, die Erzählweisen durchgehend reflektiert und umsichtig: Einfache Determinismen werden vermieden, die Vielfalt von Zentren wie Akteuren wird betont und Widersprüchlichkeiten werden nicht überdeckt. Das zeigt sich besonders in Passagen zum Nationalsozialismus: In dieser Zeit gewannen die psychosomatischen Ansätze nicht zuletzt deshalb "politisch und medizinisch an Gewicht", weil ihre Verfechter sich darauf verlegten, "psychisch leistungsfähige 'Volksgenossen' (wieder-)her[zu]stellen" (44). Nach 1945 wurde die Psychosomatik dagegen als dezidiertes Gegenmodell zu den medizinisch-politischen Verstrickungen im Zivilisationsbruch stilisiert.

Als wichtige Gelenkstelle der deutschen Psychosomatik-Geschichte konstatieren die Herausgeberinnen die Internistische Jahrestagung 1949. Deren hoher Stellenwert als umfangreich "wahrgenommene [...] Kontroverse zu epistemologischen Fragen der Psychosomatischen Medizin" wird in der Forschung oft betont. [2] Für die 1950er Jahre orientiert sich das Narrativ stark an Institutionalisierungen wie Alexander Mitscherlichs Gründung der ersten psychosomatischen Abteilung an einer Uniklinik im Heidelberg des Jahres 1950. Damit werden, wie im gesamten Band, transnationale Verflechtungen (in diesem Fall: Gelder der Rockefeller Foundation) und besondere vergangenheitspolitische Dynamiken (der Versuch eines demokratischen Neuanfangs humaner Medizin) betont. Politisches und Transnationales wird für die DDR ebenfalls in den Vordergrund gerückt. Berichtet wird beispielsweise von der Abkehr von den als bürgerlich geltenden psychoanalytischen Ansätzen und die aus der Sowjetunion oktroyierte Dominanz von Pawlows Lehren (dazu: Viola Balz). Aber auch für die DDR bleiben Gegenläufigkeiten im Blick: Es existierten dort gleichfalls zahlreiche psychosomatisch orientierten Zentren, die von Methodenpluralität geprägt waren.

Beitragsübergreifend werden die Jahrzehnte nach 1970 als Kumulationspunkt konturiert: Der Boom der Psychosomatik begann "nach Ende des ökonomischen Booms" (200). Die Psychosomatik erweist sich für diese Zeit als Indikator und Faktor breiter psychiatrie- und medizinkritischer Transformationen. Aber mündet der Band damit am Ende in einer Erfolgsgeschichte? Eher nicht. Vielmehr wird die zunehmende Eingliederung der psychosomatischen Zugriffe in die Strukturen der allgemeinen Medizin deutlich. Spätestens in den 1990er Jahren rückten weiterführende Ansprüche, die Medizin grundsätzlich zu verändern, aber in den Hintergrund. Kurz: Die abschließende Diagnose ist eher Ernüchterung als ein nachhaltiger Paradigmenwechsel.

Cornelius Borck spitzt es kritisch zu: Die Psychosomatik sei "Teil einer entfremdeten Biopolitik" geworden (433). In den Augen der Herausgeberinnen erscheint sie als "Teil eines neoliberalen Projekts" zur Arbeitskrafterhaltung (345). Obwohl der Band eine Aufstiegsgeschichte bietet, kippt das Narrativ also an keiner Stelle in Richtung optimistischer Teleologie. Gerade die Abschnitte, die sich der Gegenwart nähern, bieten kritische Anregungen, die Psychosomatik systematisch auf die Defizite der (in sich gegenläufigen) aktuell dominierenden Strömungen von evidence based medicine und precision medicine auszurichten. Damit ist der Band Zeitgeschichte im besten Sinne: Er liefert nicht nur historische Orientierung auf hohem Niveau, sondern ist auch ein Beitrag zu wichtigen kritischen Debatten der Gegenwart.


Anmerkungen:

[1] Darunter wird seit mit des 20. Jahrhunderts eine Auswahl von Krankheiten verstanden, denen eine ausgeprägte psychosomatische Komponente zugeschrieben wurde: Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwüre, Bronchialasthma, Chronische Polyarthritis, Neurodermitis, Bluthochdruck, Schilddrüsenüberfunktion und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.

[2] So jüngst Hans-Georg Hofer: Kausalität, Evidenz und Subjektivität. Paul Martinis Methodenkritik der Psychosomatischen Medizin, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 29 (2021), 387-416. https://doi.org/10.1007/s00048-021-00316-5.

Tobias Weidner