Martin Knoll / Katharina Scharf: Europäische Regionalgeschichte. Eine Einführung (= UTB; 5642), Stuttgart: UTB 2021, 236 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-8252-5642-5, EUR 24,00
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Die vor nicht allzu langer Zeit fast totgesagte Regionalgeschichte ist mittlerweile in einem allseits spürbaren Aufwind begriffen. Davon legen nicht nur zahlreiche wiederbesetzte, sondern auch neu kreierte Professuren ein beredtes Zeugnis ab, wozu im Grunde genommen auch die 2014 mit Martin Knoll besetzte Professur für Europäische Regionalgeschichte der Universität Salzburg zu rechnen ist. Sichtbarer Ausdruck dieses Wiederaufschwungs im frohgemuten Dialog mit den anderen historischen Teildisziplinen ist auch die Publikation grundlegender Überblickswerke, die das methodische Rüstzeug des Faches genauso in den Blick nehmen, wie sie seine zentralen Ansätze und Erkenntnisinteressen beleuchten. Zu diesen wichtigen Büchern ist das im Folgenden zu besprechende Buch des bereits erwähnten Salzburger Regionalhistorikers Knoll und seiner ehemaligen Doktorandin Katharina Scharf zu zählen, das im bekannten utb-Studienbuchformat eine ebensolche vornehmlich für Studierende gedachte, aber auch für "Fortgeschrittene" und außeruniversitäre Interessierte lesenswerte Einführung in die Europäische Regionalgeschichte bietet.
Schon auf der ersten Seite ihrer Einleitung (7-24) gehen Knoll und Scharf medias in res, indem sie ihr Thema klar definieren: "Europäische Regionalgeschichte wird ... verstanden als Zugang der vergleichenden historischen Untersuchung von und in Regionen, der sich einem gesamteuropäischen Problemhorizont verpflichtet weiß" (7). Von diesem Statement ausgehend, das den Vergleich und den Blick auf die Transfer- und Verflechtungsgeschichte zum zentralen methodischen Instrumentarium erhebt, erläutern sie den Aufbau ihres Werkes (8), um dann in den beiden Unterkapiteln ihrer Einleitung einerseits die Aktualität und Konjunktur der Region zu illustrieren und andererseits das Verhältnis der Regional- zur Landesgeschichte anzusprechen. Geklärt wird "die Frage, was an Trennendem bleibt, wenn es so viel Verbindendes gibt" (21), letztlich nicht, was unbefriedigend wirken mag, aber nur ehrlich ist: "Vielleicht muss sie (die Frage, O.A.) offen bleiben" (ebd.). Stattdessen werden drei Zugänge zur Regionalgeschichte (materialistisch, konstruktivistisch, juridisch-institutionell) als annäherungsweise Definition offeriert und "die Offenheit der Regionalgeschichte für diverse historiografische Zugänge der Allgemeingeschichte" als eines "ihre(r) großen Potentiale" benannt (23).
Im zweiten Kapitel, nach Ansicht des Rezensenten dasjenige mit der größten Tiefenschärfe, geht es um "Region als Konzept und historische(n) Gegenstand" (25-38). Vielleicht etwas zu betont an Miloš Řezniks Ausführungen zur Regionalität als historischer Kategorie angelehnt, bieten Knoll und Scharf darin einen beeindruckenden multiperspektivischen Rundumschlag durch den State of the art. Sie lassen die Beziehung der "Region" zum "Land" und zur "Heimat" nicht außeracht und liefern zum Schluss eine hilfreiche Arbeitsdefinition (36).
Das mit Abstand umfänglichste Kapitel des Buches ist das dritte, in dem Gegenstände, Perspektiven und Herausforderungen der Regionalgeschichte anhand verschiedener "teildisziplinär geprägter Perspektiven" (8) durchweg kompetent vorgestellt werden (39-165). Konkret kommt "Regionalgeschichte als" Politik-, Mikro-, Global- und transterritoriale, Wirtschafts- und Sozial-, Kultur-, Umwelt-, Stadt-, Religions- und Konfessions-, Tourismus-, Migrations-, biografische sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte und zuletzt als Aspekt im Schulunterricht zur Sprache. Wie Knoll und Scharf eingangs einräumen, ist ihre "Auswahl erstens nicht zwingend ... und (bildet, O.A.) die Breite der Regionalgeschichte nicht erschöpfend ab(...)" (9). Und zweitens lasse sich "Sortenreinheit der Blickwinkel", wie sie hier suggeriert wird, in der regionalhistorischen Praxis oftmals so nicht realisieren (ebd.). Zum Schluss des Kapitels kommen die Verfasserin und der Verfasser noch knapp auf "offene Fragen" der Regionalgeschichte zu sprechen, wobei es in der Hauptsache um die als "Gretchenfrage" bezeichnete Erfordernis zur Selbstreflexion geht: "Wenn die Region überall ist, wenn alle Forschungen Regionalstudien beinhalten, was zeichnet die Regionalgeschichte als Disziplin, als Fach aus?" (162).
Das vierte Kapitel ist sodann einer Bestandsaufnahme der aktuellen Regionalgeschichte hinsichtlich ihrer universitär-wissenschaftlichen und in Bezug auf ihre außeruniversitäre Verankerung gewidmet (167-187). Darin finden sich z.B. relevante Professuren und Lehrstühle an den deutschen, österreichischen und Schweizer Universitäten aufgelistet, eine Auswahl laufender bzw. abgeschlossener Qualifikationsschriften aneinandergereiht, die "Literaturlandschaft" mit wichtigen Publikationsreihen und Zeitschriften aufgeführt, außeruniversitäre Einrichtungen genannt usw. Auch der Regionalgeschichte in aktuellen Studiengängen inklusive angebotenen Praktika und Volontariaten etc. sind Passagen eingeräumt. Wie im Text mehrfach betont wird, handelt es sich bei den erwähnten Institutionen, Organen und Sachverhalten jeweils um eine beispielhafte bis fragmentarische Auswahl.
Es schließt sich fünftens ein ausführliches Verzeichnis der Abbildungen, der - etwas gewöhnungsbedürftig ohne Verlagsort zitierten - Literatur und Quellen, Online-Ressourcen sowie Links zu relevanten Professuren und Lehrstühlen (189-223) an, worauf abschließend noch ein hilfreiches Register (227-236) folgt.
Der ganze Band ist erfreulich übersichtlich gestaltet und durchweg verständlich geschrieben. Nur hier und da ließ die Redaktionsarbeit zu wünschen übrig (falsche Kopfzeile im Kapitel 2 "Landesgeschichte oder Regionalgeschichte", "Vulkanausbruch in (!) Island", 83). Am Schluss jedes Kapitels stehen wertvolle Literaturtipps für den raschen, konkreten Zugriff auf den behandelten Aspekt; im dritten Kapitel wird zur Behandlung jedes aufgezeigten Teilaspekts der Regionalgeschichte zudem ein prägnantes Fazit geliefert.
Inhaltlich zeigt sich der Band in dem vorgeführten Themenspektrum auf einem erfreulich aktuellen und breit aufgestellten Stand. Hier und da überrascht die Literaturauswahl, da relevant erscheinende Titel nicht vorkommen und wiederum andere genannt werden, die für den spezifischen Fachdiskurs auf den ersten Blick weniger bedeutsam erscheinen. Wenn man sich das viel zitierte Diktum Ludwig Petrys "In Grenzen unbegrenzt" vergegenwärtigt, das zunächst, 1960, wohlgemerkt erst einmal nur auf die Geschichtliche Landeskunde gemünzt war, sich im Nachgang freilich seiner Eingängigkeit und universalen Verwendbarkeit wegen zum Generalmotto der Landes- und Regionalgeschichte entwickelte, dann ist klar, dass das Perspektivenspektrum durch die in diesem Buch vorgestellte Palette nicht vollends ausgeschöpft ist. Autor und Autorin stehen bewusst und offen zu ihrer regionalhistorischen Verortung in Salzburg (7), was an den dargelegten Inhalten deutlich ablesbar ist. So bilden etwa die vergleichende Tourismusgeschichte europäischer Regionen, die historische Entwicklung von Stadt-Hinterland-Beziehungen, regionale Konsumgeschichte und Migrationsgeschichte derzeitige Schwerpunkte in der Salzburger Forschung und Lehre - und diese Themen kommen selbstredend - und ganz und gar berechtigt - prominent im Buch vor. Aus der von Salzburg aus anscheinend sehr weit entfernten Kieler regionalhistorischen Perspektive muss es da freilich enttäuschen, dass weder die in Kiel realisierten Klosterbuchvorhaben - was doch als immanenter Teil der angesprochenen Kirchengeschichte spielend möglich gewesen wäre - noch digitale Leuchtturmprojekte wie das Kieler oder das nunmehr geplante Deutsche Digitale Gelehrtenverzeichnis im Rahmen der ohnehin etwas zu blass behandelten Digital Humanities (62f.) noch der hier seit längerem erfolgreich praktizierte Ansatz von Dynastiegeschichte als Regionalgeschichte mit irgendeiner Silbe gewürdigt werden. Das mag auch daran liegen - und das ist ein Manko des Buches -, dass Mittelalter und frühe Neuzeit zwar behandelt werden, aber inhaltlich insgesamt doch etwas zu kurz kommen. Aber für diesen Kritikpunkt gilt selbstverständlich, da "in Grenzen unbegrenzt": Weitere Rezensenten und Rezensentinnen werden ganz andere Fehlstellen monieren.
Ein grundsätzliches Monitum bezieht sich hingegen auf den Problembereich der Methoden und Methodik in der Regionalgeschichte. Nicht nur, dass im Buch zwischen der Sicht, Regionalgeschichte selbst sei eine Methode (31, 61), und Regionalgeschichte als Fach bediene sich verschiedener Methoden (Vergleich, 8; methodische Konstruktion und [Re-]Produktion von Regionen, 61) kommentarlos changiert wird, was Studierende verunsichern muss. Ein eigenes Methodenkapitel kommt im Buch überhaupt nicht vor. Dies muss umso mehr überraschen, als doch gerade ein ausgeprägtes Methodenbewusstsein seit langem als besonderes Charakteristikum der Regionalgeschichte hervorgehoben wird.
Bei alledem bleibt festzuhalten: Knolls und Scharfs einführende Darstellung zur Europäischen Regionalgeschichte ist die erste ihrer Art, die diesen Namen auch verdient. Das Wagnis, mit ihrem Studienbuch Neuland zu beschreiten, hat sich unbedingt gelohnt! Künftig wird man auf ihre Ausführungen gern zurückgreifen, nicht nur wenn man sich allgemein zur Regionalgeschichte informieren, sondern auch wenn man sich kurzerhand über deren Verhältnis zu anderen Fächern und Disziplinen in Kenntnis setzen möchte. Nicht zuletzt ist es Autorin und Autor erfolgreich gelungen, Regionalgeschichte als Konzept und Subdisziplin - nicht als Methode, wie der Rezensent meint! - klar zu akzentuieren - so klar, dass es sich durchaus nochmals lohnen dürfte zu hinterfragen, ob Landes- und Regionalgeschichte mittlerweile wirklich nur miteinander austauschbare Termini für ein- und denselben spezifischen geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf die Vergangenheit geworden sind!
Oliver Auge