André Postert: Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 69), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 458 S., ISBN 978-3-525-36098-9, EUR 39,00
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"Politische Sozialisation im 'Dritten Reich' war auf Perfektion hin angelegt, aber sie war nicht perfekt [...]. 'Die' Hitler-Jugend-Generation als jugendgeschichtliche Einheit ist nie Realität gewesen." [1] Dieses Fazit des Nestors der HJ-Forschung findet seine sinngemäße Bestätigung auch in zahlreichen jüngeren Studien zur nationalsozialistischen Jugendorganisation. Wenn Postert sich das Ziel setzt, den von der NS-Propaganda inszenierten und mitunter bis heute kolportierten "Mythos" einer "Jugend im Gleichschritt" (13), einer NS-Jugendorganisation "als [...] allumfassender Apparat" (11) zu relativieren, tut er dies durchaus in Anlehnung an die aktuelle HJ-Geschichtsschreibung.
Das Spezifische an seiner Darstellung ist der Fokus, der konsequent auf die defizitäre Überführung ideologischer und politischer Ansprüche in die alltäglichen Dienstpraxen der HJ gerichtet wird. In den Blick rückt somit eine "Organisation mit Spielräumen" (21), die wiederum von ihren Mitgliedern "verschieden [...] erlebt und eigensinnig genutzt" (24) werden konnten. Zu Recht erfolgt dabei der Hinweis, dass diese "Freiräume" keineswegs nur die Möglichkeit boten, sich den Zugriffen der HJ und ihrer Reichsjugendführung (RJF) zu entziehen. Wenngleich ein Fernbleiben bis zuletzt möglich war, kam es ebenso regelmäßig zu Formen der "Selbstermächtigung" und damit zu einer "Radikalisierung" unter den Mitgliedern (29).
Der Ort, an dem den Entwicklungen der HJ nachgegangen wird, ist die "Alltagsrealität" (16) der Jugendorganisation. Analyseleitend sind "Fragen nach dem Alltag von jungen Menschen in der Massenorganisation sowie insbesondere nach der Funktionsweise von Formationen und Einheiten an der Basis" (22). Damit reiht sich Postert in die neuere Forschung zur "Volksgemeinschaft" ein. Dass dabei Räume des HJ-Alltags, die untersucht werden sollen, keine weitergehende Eingrenzung erfahren, erschwert die Lektüre mitunter.
Als Quellen wurden vor allem solche herangezogen, welche die Alltagsperspektive abbilden. Dies waren unter anderem Oral-History-Dokumente wie Tagebücher, Autobiographien und Zeitzeugen-Interviews sowie Dokumente aus über 40 nationalen und internationalen Archiven, deren Bestände zu guten Teilen regionale Bezüge aufweisen; dazu kommt mit den Befehlsblättern (BB) und den Gebietsbefehlen (GB) der HJ ein Fundus, der bislang selten genutzt und für die Studie eigens systematisch erschlossen wurde.
Den Hauptteil der Studie bilden drei große Kapitel, in denen mit Blick auf die Alltagsgeschichte der HJ Entwicklungen zur Darstellung kommen, anhand derer sich die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der nationalsozialistischen Jugendorganisation exemplarisch ablesen lassen. In diesen Kontexten wird die Geschichte der HJ von 1926 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt. Bei den Ausführungen zu einzelnen Debatten, sei es der, ob Aufnahmen in die NSDAP gegen Kriegsende auch ohne Zutun und Wissen der betreffenden HJ-Angehörigen möglich gewesen seien, oder der über die anhaltende Wirkungsmacht des "Mythos von der allumfassenden Hitlerjugend" (412), geht der Blick auch weit darüber hinaus - letztlich bis zur HJ-Deutung der Gegenwart.
Kritisch wäre anzumerken, dass die wiederholte Rede von der "Staatsjugend", welche die HJ formal nie war, zumindest missverständlich ist. Auch übernimmt der Autor allzu leichtfertig nationalsozialistische Selbstzuschreibungen. Dies ist etwa dort der Fall, wo die HJ als "Jugendbewegung" bezeichnet und das "endgültige Ende" dieses Charakteristikums erst auf Sommer 1942 datiert wird (300). Wenngleich das erkennbare Bemühen um Vollständigkeit zwangsläufig dazu führt, dass manches nur oberflächlich angerissen werden kann, ist positiv hervorzuheben, dass Postert auch Themen aufgreift, die mitunter wenig Berücksichtigung finden; dazu gehört etwa das Schicksal der jüdischen "Mischlinge". Die Kriegsdienste der HJ werden vergleichsweise knapp abgehandelt. Hierbei überrascht es etwas, dass die tatsächlichen Kriegseinsätze der HJ-Angehörigen, die sich nicht in der Erntehilfe oder gegebenenfalls dem Dienst bei den Luftwaffenhelfern erschöpften, sondern auch das unmittelbare Kampfgeschehen umfassten, kaum Erwähnung finden. In der HJ-Geschichtsschreibung oft ausgeblendet, wären gerade sie zweifelsohne geeignet gewesen, die Thesen der Studie anhand der Extremsituation des Krieges zu belegen.
Insgesamt vermittelt Posterts Studie die empirisch gesättigte Einsicht, dass die Lebenswirklichkeit der NS-Jugendorganisation selten schwarz-weiß, sondern zumeist grau war. Nach 1933 war sie nie ein gänzlich freiwilliges Abenteuer, denn dem sozialen Druck auf die Jugendlichen, sich der HJ anzuschließen, konnten sich diese nur schwer entziehen. Zugleich war die HJ-Mitgliedschaft aber nie unausweichlicher Zwang, da die administrativen Regelungen sich trotz aller Verschärfungen kaum einmal als hinreichend effektiv erwiesen.
Die Studie weist eine bemerkenswerte Übersicht über Publikationen, Quellen und Teilaspekte der HJ-Geschichte auf. Allerdings gerät sie über diese Fülle teils an die Grenzen des in einer Arbeit differenziert Darstellbaren. Dies fällt nicht zuletzt dort auf, wo es um die weibliche Jugend in der HJ geht. Deren Erfahrungen finden deutlich weniger Beachtung als die der männlichen HJ-Angehörigen. Die Begründung hierfür überzeugt nicht ganz. Problematischer erscheint es jedoch, wenn infolge der knapperen Befassung mit dem Bund deutscher Mädel (BDM) als Teilorganisation der HJ mitunter Stereotype kolportiert werden. Dies geschieht beispielsweise dort, wo die Auffassungen Magda Goebbels' zur Rolle der "Hitlermädels" weitgehend unkommentiert zitiert werden oder die pauschale Angabe erfolgt: "Den sogenannten Kämpferinnen und Kameradinnen der frühen Jahre standen nachher die Heimchen und zukünftigen Mütter gegenüber" (23). In solchen Passagen entsteht mitunter der Eindruck, in der Studie würde für die Erfahrungswelt der weiblichen Jugend eben doch Propaganda mit den tatsächlichen politischen Zielen und schließlich der Organisationsrealität gleichgesetzt. Hier hätten der rezipierten Fachliteratur zum BDM differenziertere Hinweise entnommen werden können.
Trotz dieser Kritikpunkte stellt die Studie eine wichtige Erweiterung der HJ-Forschung dar. Stärker als die - angesichts des umfassenden Anspruchs - teils verknappenden Darstellungen zur Gesamtentwicklung der Jugendorganisation überzeugen Vielzahl und Vielfalt der Fallbeispiele, allerdings ist die Systematik ihrer Auswahl nicht immer nachzuvollziehen. Dennoch gelingt der Nachweis einer bis zuletzt bestehenden Verhaltensheterogenität an der Basis der HJ. Das Fazit Posterts fügt sich dann auch nahtlos ein in die perspektivische Vorgabe Klönnes: "Die Hitlerjugend war ihrem Anspruch und ihrer Zielsetzung nach totalitär. Ihr Alltag ist aber nicht mit ihrer öffentlichen Inszenierung oder der Propagandakulisse des Reichsparteitags zu verwechseln. " (415).
Dieser Abgleich mit dem Anspruch der RJF ist letztlich das entscheidende Kriterium. Denn spannend ist es durchaus, dass viele Beispiele einerseits als Beleg einer überforderten Organisation gelesen werden können, andererseits gleichermaßen als Hinweis darauf, dass es hier bis auf einige Reibungsverluste in bemerkenswertem Ausmaß gelungen ist, die "deutsche Jugend" zu formieren (exemplarisch: 300). Entscheidend ist hierbei: Unabhängig davon, in welche Richtung man bei diesen Interpretationsfragen tendiert, findet man in Posterts Analyse eine Vielzahl empirischer und argumentativer Hinweise, die zur Diskussion über eine vermeintlich bekannte Organisationsgeschichte anregen.
Anmerkung:
[1] Arno Klönne: Jugend im Nationalsozialismus - Ansätze und Probleme der Aufarbeitung, in: Wolfgang Keim (Hg.): Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus - Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft, 2., durchgesehene Aufl., Frankfurt/M. 1988, 79-87, hier 87.
Jakob Benecke