Rezension über:

Wolfgang Pehnt: Städtebau des Erinnerns. Mythen und Zitate westlicher Städte, Ostfildern: Hatje Cantz 2021, 235 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7757-4720-2, EUR 44,00
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Rezension von:
Dietrich Erben
Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design, Technische Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Dietrich Erben: Rezension von: Wolfgang Pehnt: Städtebau des Erinnerns. Mythen und Zitate westlicher Städte, Ostfildern: Hatje Cantz 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 1 [15.01.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/01/36458.html


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Wolfgang Pehnt: Städtebau des Erinnerns

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"Venedig des Nordens", das "Neue Rom" und das "Dritte Rom", das "Neue Jerusalem", "Isarathen" und "Elbflorenz", "Paris at the Lake" - so klingen nicht bloß verführerische Label des Stadtmarketings und der kommunalen Kulturindustrien, sondern es sind vor allem Umschreibungen für absichtsvolles städteplanerisches Handeln und Metaphern für substanzielle historische Erinnerungskonstellationen. Diese Argumentation arbeitet Wolfgang Pehnt in seinem Städtebau des Erinnerns heraus. Das Buch ist eine Architekturgeschichte europäischer und europäisierter Metropolen, aber es ist einmal nicht die Rede von horrenden Mietpreisen, ökologischen Schieflagen, schwer lösbaren Verstrickungen in der Verkehrspolitik, unsicheren öffentlichen Räumen, nicht aufzuhaltendem Gebietsfraß oder kommunaler Verschuldung. Auch wenn das Buch einen Bogen um solche stets auch für die gebauten Umwelten relevanten Gegenwartsdiagnosen schlägt, widmet sich Wolfgang Pehnt der Architekturgeschichte nicht nostalgisch, indem er sich für Vergangenheit vor allem als eine herbeizitierte "Herkunft" interessieren würde; und schon gar nicht ist das Buch elegisch, indem es angesichts der Rückblenden auf prachtvolle Architektur in einer von je her schwierigen Aktualität in den Ton verhaltener Resignation verfallen würde.

Das Buch bietet eine ertragreiche Ideengeschichte des Städtebaus aus dem Geist historischer Erinnerung. Die Erzählung holt weit aus und reicht buchstäblich zu den Anfängen zurück. Jedoch geht Pehnt, wie er in der Einleitung ausführt, davon aus, dass mit der Neuzeit ein "Zeitalter der Sichtbarkeit" angebrochen sei: Die "symbolhaft-ideelle Teilhabe am Charisma bevorzugter Orte" habe sich nun "zu einer nachbildenden, also dem Auge unmittelbar einleuchtenden Nachfolge" (11) gewandelt. Diese konnte in der Beobachtung der jeweiligen Stadtgestalt evident werden. Bei der Vermittlung dieses Nachfolgegedankens gingen Reiseerfahrungen vor Ort mit der Kenntnis von Stadtplänen und Veduten sowie mit der Lektüre von literarischen Stadtbeschreibungen Hand in Hand. Bisweilen sorgen externe Kulturniederlassungen, wie Kunstakademien oder wissenschaftliche Institute, als Transmitter von Metropole zu Metropole. Dabei steht Pehnt deutlich genug vor Augen, dass bei den unablässigen Berufungen auf Ursprungslegenden und in der Logik der Begründungen von Nachahmungen manches offen bleibt. Oftmals geht es um "Parallelen, aber keine Herleitungen" (17), und fast immer überlagern sich im "Spiel der Bedeutungen" (16) durchaus unterschiedliche Berufungsinstanzen, seien es Einzelmonumente oder Elemente des Stadtplans. Am Anfang der Chronologie verdankt sich das Aachen Karls des Großen mit dem Pfalzpalast der Rom-Imitatio, hingegen mit der Palastkapelle den Sakralbauten in Ravenna; am anderen Ende der Erzählung ist die Planung von Washington nicht nur von Rom, sondern auch von Venedig und Paris inspiriert.

Der Fundus der "Mythen und Zitate westlicher Städte" wird in einer Reihe von Stadtmonografien erschlossen. In geradezu kanonischer Zwölfzahl stehen, wie bei einem feierlichen Defilee, die Städteporträts Spalier und sind in etwa in der Chronologie ihrer Anciennität angeordnet: Jerusalem, Athen, Rom, Konstantinopel / Byzanz / Istanbul, Aachen, Venedig, Paris, Berlin, Dresden, St. Petersburg, Chicago, Washington. Die einzelnen Kapitel sind ebenso kurzweilig wie informativ und in den Befunden präzise. Pehnt führt mit traumwandlerischer historischer Trittsicherheit durch die Städte, in jedem Satz lässt sich die reflektierte Anschauung aus der Ortskenntnis nachvollziehen, und fast immer gibt sich der Autor mit Ausblicken in die Gegenwart am Ende der jeweiligen Kapitel als kritischer Architekturbeobachter zu erkennen. So stellt es sich als ein Leitmotiv am Schluss der einzelnen Stadterzählungen heraus, dass die historisch verbindliche Dialektik von Vorbild und Nachahmung in der Gegenwart schon längst in die Wertschöpfungsketten der Themenparks, Tourismusresorts und Outlet-Retorten umgemünzt wurde. Dort werden bevorzugt Bauimitationen aus Venedig, Paris und Rom collagiert.

Wenn man sich bei der Lektüre bisweilen im Kursorisch-Episodenhaften verliert, so liegt das wohl auch in den Volten, welche die erzählte Geschichte selbst schlägt. Zuerst einmal kommen Geben und Nehmen oft zusammen. Bekanntlich bezieht sich die mittelalterliche bauliche Herrschaftsikonografie Venedigs auf Byzanz, bevor die Stadtanlage der Lagunenstadt und insbesondere das Bauensemble an der Piazza San Marco ihrerseits seit der Neuzeit - so in Amsterdam, Dresden und Hamburg - als Modell auserkoren wurden. Im Paris des 17. Jahrhunderts wurde der Anspruch verfolgt, mit den politischen Titeln auch Elemente der gebauten Überlieferung von Rom zu übernehmen, bis dann von Paris aus im 18. und 19. Jahrhundert die Konzepte von Embellissement und Hausmannisierung an andere Städte, auch in Übersee, weiter gereicht wurden. Darüber hinaus konnte recht Unterschiedliches Gegenstand der Nachahmung sein: Stadtfunktionen und politische Verfassungen (Hafenstädte, Hauptstädte, Republiken, Reichszentren etc.) ebenso wie Topografien (Hügel, Küste, Fluss, Kanäle, Lagune) oder individuelle Stadtgestalten ("gewachsene" Strukturen, Raster-, Plan- und Idealstädte) und schließlich auf der Ebene der Einzelbauten auch zeichenhafte architektonische Typologien (Türme, Kuppeln, Triumphsäulen und -bögen, Stadttreppen etc.). Es kommt hinzu, dass die Einheitlichkeit, um nicht zu sagen die formale Redundanz, der morphologischen Elemente einer Stadt es erschweren, die tatsächlichen Übernahmeimpulse verbindlich zu rekonstruieren. Der Beaux-Arts-Städtebau tat ein Übriges, die standardisierte Morphologie von Wohnblock und Platz, Wegesystem, Grün- und Wasseranlage zum Allgemeingut zu machen.

Sucht man nach einem roten Faden, an dem man sich in dem imposanten, von Pehnt geschilderten Zitatlabyrinth orientieren könnte, so lässt er sich wohl am griffigsten im Begriff der Translatio finden. Zusammen mit den Staaten und Imperien bildet die Translation auch für die Metropolen eine gedankliche Struktur, deren Eigensinn darin besteht, dass Reiche und deren Hauptstädte letztlich nicht neu "gegründet" werden können, sondern dass deren Herrschaft immer nur "übertragen" werden kann. Archetypischer Übertragungsvorgang ist die Translation der Macht von Gott an seine Völker. Dem Denken in diesen Übertragungsformeln traten zwar die Begriffe von Gründung und Anfang an die Seite, doch sogar als man allmählich in den Kategorien von Epochenentwicklungen oder von Fortschritt zu denken begann, blieb das Muster von Übertragung und konkurrierender Übernahme - ganz explizit etwa in der Wirtschaftsdoktrin des Merkantilismus - selbst in der Neuzeit noch verbindlich. Formale Methode der Translation war die künstlerische Imitatio und deren Zielperspektive wiederum war, wie es schon der Staats- und Stadtdenker Giovanni Botero in seinem frühen Traktat Delle cause della grandezza delle città (1598) sah, die bevölkerungsreiche Großartigkeit.

Soziologisch gesprochen sind Städte als Idealtypen hochaggregierte Konstrukte von Eigenschaften, die in der Realität so gar nicht anzutreffen sind. Oder Städte sind als Großmedien von Erinnerung, um das berühmte Begriffspaar von Reinhart Koselleck aufzugreifen, riesige Erfahrungsräume und unermessliche Erwartungshorizonte. Andernorts aufgerufene Ortsnamen sind daher auch mehr als Ortsangaben, vielmehr sind sie stets Bezeichnungen für Ideen. Es ist das Verdienst des vorliegenden Buches, mit dem Blick auf die baulichen Hinterlassenschaften den Ideengehalt von berühmten Metropolen und die Physiognomien von Städten als intellektuelle Entitäten verständlich gemacht zu haben.

Wolfgang Pehnt hat sich und uns Leserinnen und Lesern seinen Städtebau des Erinnerns zu seinem neuzigsten Geburtstag zum Geschenk gemacht. Mit dem Buch gelangt ein Thema, das den Autor über Jahrzehnte hinweg beschäftigte - ein Zeitungsartikel Rom am Potomac findet sich bereits im Jahr 1988 in der FAZ - zur Synthese. Darüber hinaus rundet sich ein bedeutendes, inspirierendes und souverän unabhängiges Lebenswerk. Wiederum lässt der Titel des vorliegenden Buches an Prägnanz als Stichwort für die jeweilige Epoche nichts zu wünschen übrig, so wie bereits früher die einprägsamen Buchtitel der Sammlungen von Pehnts Architekturessays: Der Anfang der Bescheidenheit (1983), Die Erfindung der Geschichte (1989), Die Regel und die Ausnahme (2011). Die vielen Essays werden im Œuvre Pehnts begleitet von der magistralen frühen Studie über die Architektur des Expressionismus (1973), von mehreren Architektenmonografien und von den zeitlich übergreifenden Darstellungen Das Ende der Zuversicht (1983) und der Deutschen Architekturgeschichte seit 1900 (2005).

Wenn man Pehnts Rolle als Chronist insbesondere der Architekturmoderne Revue passieren lässt, könnte man sich fragen, welche Forderungen des Tages auch in seinem historischen Stadtpanorama stecken. Zum einen würde man dann darauf verwiesen, dass der Architektur als Medium der Erinnerung eine historische Dringlichkeit zukommt, die mit den Attrappen von Rekonstruktionen nicht zu haben ist. Zum anderen wäre der Begriff der "europäischen Stadt" - Pehnt spricht zurückhaltender von "westlichen Städten" - gegen die populistischen Abschottungsfanatiker, die ihn mittlerweile als politischen Kampfbegriff in Stellung gebracht haben, zu verteidigen, indem man Geografien, Geschichten und Gesellschaften als charakteristische Spannungsfelder von Einheit und Vielfalt europäischer Städte nachvollziehbar macht.

Dietrich Erben