Mario Klarer (Hg.): Verschleppt, Verkauft, Versklavt. Deutschsprachige Sklavenberichte aus Nordafrika (1550-1800). Edition und Kommentar, Wien: Böhlau 2019, 249 S., 48 s/w-Abb.
, ISBN 978-3-205-23280-3, EUR 40,00
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Géza Dávid / Pál Foder (eds.): Ransom Slavery Along the Ottoman Borders. Early Fifteenth - Early Eighteenth Centuries, Leiden / Boston: Brill 2007
Hsieh Bao Hua: Concubinage and Servitude in Late Imperial China, Lanham, MD: Lexington Books 2014
Mary Ann Fay (ed.): Slavery in the Islamic World. Its Characteristics and Commonality, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2019
Cameron Sutt: Slavery in Árpád-era Hungary in a Comparative Context, Leiden / Boston: Brill 2015
David M. Lewis: Greek Slave Systems in their Eastern Mediterranean Context, c.800-146 BC, Oxford: Oxford University Press 2018
Sabine Haag / Mario Klarer / Veronika Sandbichler (Hgg.): Piraten und Sklaven im Mittelmeer. Eine Ausstellung von Schloss Ambras Innsbruck und der Universität Innsbruck, Innsbruck: Haymon Verlag 2019
Mario Klarer (ed.): Piracy and Captivity in the Mediterranean 1550-1810, London / New York: Routledge 2019
Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen sind doch eigentlich immer auf der Suche nach Ego-Dokumenten, also nach Texten, die aus der Ich-Perspektive über individuelle Erfahrungen und Beobachtungen berichten. Es fallen einem sofort Reise- und Gesandtschaftberichte, Briefe oder - in unserem Kontext - die klassischen slave narratives ein. Natürlich wissen wir, dass autobiographische Erzählungen häufig keine realen Situationen abbilden, sondern letztlich Imaginationen ihrer Autor*innen darstellen. Die Grenze zwischen faktual und fiktional ist trotz des bei diesen Gattungen impliziten Authentizitätsanspruches verschwommen.
Eine bislang übersehene oder zumindest arg vernachlässigte Textsorte bilden Berichte von Europäern, die in der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert im Zuge der permanenten militärischen Auseinandersetzungen auf dem westlichen Teil des Mittelmeers in nordafrikanische Gefangenschaft geraten sind. Vielen dieser Personen wurden über Sklavenmärkte in Tunis, Algier, Tripolis und Salé an muslimische Haushalte verkauft. Insgesamt hält man die Zahl von mehreren hunderttausend Personen für realistisch. Allerdings gab es eine ähnlich hohe Zahl muslimischer Sklav*innen, die auf entsprechenden Märkten auf Malta oder in Málaga und Marseille christliche Käufer fanden. Zumindest für die Europäer*innen waren die Chancen nicht ganz schlecht, dass man seine Freiheit durch Loskauf wiedererlangte. Das Lösegeld, das offenbar bis zu einem Viertel der gesamten Einnahmen der sogenannten "Barbareskenstaaten" ausmachte, wurde entweder von darauf spezialisierten katholischen Orden oder - im protestantischen Norden - aus eigens dafür eingerichteten "Sklavenkassen" bereitgestellt.
Eine Reihe der freigekauften Sklav*innen griff, wie gesagt, nach ihrer Rückkehr zur Feder, um ausführlich ihre Erlebnisse zu schildern. Unter den Lesekundigen stießen die Texte auf großes Interesse. Vor dem Hintergrund der europäischen Expansion war grundsätzlich das Bedürfnis entstanden, Informationen über "fremde" Regionen zu erhalten. Hinzu kam eine voyeuristische Neugierde, mehr aus erster Hand über die muslimische Welt auf der anderen Seite des Mittelmeeres zu erfahren. Überliefert sind offenbar etwa 100 solcher Sklavenberichte in unterschiedlichen europäischen Idiomen.
In dem hier vorliegenden Sammelband präsentiert Mario Klarer dem Leser als Querschnitt übersetzte Ausschnitte aus sechs Texten, die auf Deutsch, Flämisch oder Dänisch verfasst worden sind: (1) Balthasar Sturmer war ein deutscher Kaufmannssohn, der in den 1530er Jahren als Galeerensklave in der Flotte des osmanischen Admirals und Herrschers von Algier Khayr al-Din Barbarossa (gest. 1546) arbeiten musste. Von seiner 1558 angefertigten "Reise in die Türkei" gibt es bislang keine Edition. Das Autograph befindet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (Ms. Germ. Qu 1014). (2) Der flämische Edelmann Emanuel de Aranda (gest. 1686) berichtet uns über seine Abenteuer aus den 1640er Jahren. Auf einer Fahrt nach Spanien war er von algerischen Piraten gefangen genommen, nach Algier verschleppt und nach 18 Monaten im Austausch gegen nordafrikanische Sklaven, die sich in Europa befanden, freigelassen worden. Auch hier liegt das Autograph vor. Es befindet sich in Privatbesitz, doch ist es Mario Klarer wohl gelungen, eine Kopie davon zu bekommen. Veröffentlicht wurde der ursprünglich in flämischer Sprache abgefasste Bericht dann 1656 in Brüssel auf Französisch unter dem Titel "Relation de la captivité et liberté du Sieur Emanuel de Aranda, mené esclave à Alger and l'an 1640 & mass and liberté l'an 1642" bei Jean Mommart. Für diesen Sammelband benutzt Klarer eine deutsche Version, die der Altonaer Pastor, Autor, Zeitungsredakteur und Publizist Johann Frisch (gest. 1692) in seine 1666 veröffentlichte Anthologie "Der Schauplatz Barbarischer Schlaverey" aufgenommen hat. Ein genauer Vergleich der edierten und übersetzten Fassung wäre sehr lohnenswert, um die von den Herausgebern vorgenommenen Änderungen, Ergänzungen und Kontextualisierungen zu verfolgen. (3) 1724 geriet im Alter von 15 Jahren der von der damals dänischen Nordseeinsel Amrum stammende Hark Olufs (gest. 1754) auf einer Seereise in nordafrikanische Gefangenschaft. Es gelang ihm, am Hof des Herrschers von Constantine Karriere zu machen und bis zum Kommandeur der Kavallerie aufzusteigen. Nach seiner Freilassung im Jahre 1735 kehrte er in seine Heimatstadt auf Amrum zurück. 1747 veröffentlichte er seine Autobiographie zunächst auf Dänisch. 1751 folgte die deutsche Übersetzung "Harck Olufs aus der Insul Amron im Stifte Ripen in Jütland, gebürtig, sonderbare Avanturen, so sich ihm insonderheit zu Constantine und anderen Orten in Africa zugetragen." (Ihrer Merkwürdigkeit wegen in Dänischer Sprache zum Drucke befördert, itzo aber ins Deutsche übersetzet. Flensburg, im Verlag Johann Christian Kortens, 1751). (4) Es folgt ein Auszug aus dem Sklavenbericht der Brüder Andreas Matthäus Wolffgang (gest. 1736) und Johann Georg Wolffgang (gest. 1744). Die beiden Kupferstecher begaben sich 1684 zur Ausbildung nach Amsterdam. Auf der Rückreise von einem Besuch in England wurden sie von muslimischen Korsaren gefangen gesetzt und in Algier als Haussklaven verkauft. Gegen ein Lösegeld, das ihr Vater bezahlte, kamen sie nach zwei Jahren wieder frei. Auf uns gekommen ist ein Reisebericht, den einer ihrer Söhne auf der Grundlage ihrer Erzählungen zusammengestellt hat: "Reisen und wunderbare Schicksale zweyer in die Algierische Leibeigenschaft gerathenen Brüder Andreas Matthaeus und Johann Georg Wolffgang, Kupferstecher in Augsburg, ihrer Seltenheit wegen dem Drucke überlassen, von dem Sohne eines derselben." (Augsburg, 1767). Das Besondere an ihrer Darstellung sind die zahlreichen Kupferstiche mit Abbildungen von Personen aus Algier. (5) 15 Jahre lang verbrachte Johann Michael Kühn als Sklave in Nordafrika, bevor er mit der Hilfe von Hamburger Spendengelder und dem persönlichen Vermögen seines Bruders freigekauft wurde. In seinem Erlebnisbericht ("Johann Michael Kühns merckwürdige Lebens- und Reise-Beschreibung". Gotha: Mevius, 1741) vermischen sich realistische Beschreibungen, Übernahmen aus anderen Texten und phantasievolle Ausschmückungen. (6) "Leonhard Eisenschmieds, eines österreichischen Unterthans merkwürdige Land- und Seereisen durch Europa, Africa und Asien. Eine wahre Geschichte aus den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts. Mit einer getreuen Beschreibung verschiedener Länder, Inseln, Völker, ihrer Sitten und Gebräuche" (2 Bände. Grätz: Tanzer, 1807) bildet den Übergang von faktualen Berichten zu fiktionalen Texten. Die Nähe zu Daniel Defoes (gest. 1731) "The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver'd by Pirates. Written by Himself" (London: printed for W. Taylor, 1719) ist unverkennlich.
Alles in allem hat Mario Klarer eine nützliche Quellensammlung vorgelegt, die man auch im Unterricht gut verwendet kann. Die Einleitung beschreibt sehr gut den historischen Hintergrund und liefert erste Analyseansätze. Die Biogramme hätten etwas ausführlicher sein können.
Stephan Conermann