Robert Stüwe / Thomas Panayotopoulos (eds.): The Juncker Commission. Politicizing EU Policies (= Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung; Vol. 79), Baden-Baden: NOMOS 2020, 216 S., ISBN 978-3-8487-5597-4, EUR 44,00
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Die ambitionierten Vorhaben von Jean-Claude Juncker, der vom Europäischen Parlament am 15. Juli 2014 zum Präsidenten der EU-Kommission gewählt wurde, waren eine politische Kommission und die Verfolgung von zehn Prioritäten, die durch ein komprimiertes jährliches Arbeitsprogramm auf der Basis neuer Methoden zur Organisation von Arbeitsstrukturen realisiert werden sollten. Während Junckers fünfjährigen Amtszeit begleitete ein interdisziplinäres Forscherteam am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn die Implementierung dieses Unternehmens. Das Zusammenwirken zwischen der Europäischen Kommission als Initiatorin und Vollstreckerin von EU-Gesetzen, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat in ihrer gemeinsamen Funktion als gesetzgebende Entscheidungsträger wurde konsequent untersucht. Eine kontinuierliche internetbasierte Berichterstattung über den Stand der Entwicklung und regelmäßige Zwischenbilanzen sowie eine umfassende Analyse und Kommentierung der EU-Politik (2014-2019) bilden die Grundlage dieses Werks. Die Herausgeber wurden dabei von einem Expertenteam unterstützt, das entsprechend die Unterkapitel der vorliegenden Studie verantwortet.
Thomas Panayotopoulos gibt in seiner Einleitung eine konzise Übersicht. Einen Insider-Blick über Ursprünge und Funktionsweise der Kommission bietet Junckers Wahlkampfleiter und Kabinettschef, Martin Selmayr. Er verweist auf das Spitzenkandidaten-Modell bei den europäischen Parlamentswahlen 2014, das Juncker ins Amt brachte, dessen langjährige Erfahrung als luxemburgischer Premier (1995-2013), das schwere Erbe der Finanzkrise ab 2007, die präsidentielle Kommunikation, ein gestärktes Generalsekretariat und erneuertes interinstitutionelles Zusammenwirken. Als Erfolge nennt Selmayr unter anderem, Griechenland im Euro-Raum gehalten, einen fairen Ausgleich bei den Brexit-Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich erzielt sowie eine gemeinsame Haltung und damit die Einheit der Union bewahrt zu haben. Die Kritik, wonach die Kommission ein zu starkes Näheverhältnis zum Parlament eingenommen und die großen Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland bevorzugt habe, sie zu ideologisch und parteipolitisch gewesen und damit ihrer Aufgabe als unabhängige Hüterin der Verträge nicht nachgekommen sei, weist Selmayr auf parteiische Weise zurück. Wie nicht anders zu erwarten, spricht er ein überschießendes Lob für die Leistungen der Kommission Juncker und seinen Ex-Chef aus, das am Ende seines Zeitzeugenberichts fast einer Hommage für ihn gleicht.
Die zehn Prioritäten der Juncker-Kommission werden in Folge systematisch abgearbeitet: Matthieu Bertrand widmet sich dem Juncker-Plan für einen Europäischen Fonds für strategische Investitionen, der mit einer 16-Billionen-Euro-Garantie der EU unterfüttert und durch einen 5-Billionen-Euro-Beitrag durch die Europäische Investitionsbank komplettiert wurde. Er wertet diesen wie die Einbeziehung des öffentlichen Bankenwesens in die EU-Politik als Erfolg. Bei der Untersuchung des europäischen digitalen Binnenmarkts und der Datenschutz-Richtlinie konstatiert Dominique Roch, dass nationale Narrative nicht überwunden werden konnten. Sanni Kunnas macht wechselnde politische Strategien im Rahmen der Klima- und Energieagenda aus, die letztlich halfen, die Kommission neu zu legitimieren und ihre Kompetenzen zu erweitern. Grigoriani Bougatsa zufolge konnte im "Reframing" eines vertieften und gerechteren Binnenmarkts das Versprechen des Bürokratieabbaus und weniger Gesetzgebungsakte gemanagt werden, während bei den Bemühungen um eine vertiefte und fairere Wirtschafts- und Währungsunion, die Christoph Bierbrauer nachzeichnet, trotz allen Ehrgeizes kein Durchbruch für eine Eurozonen-Reform erzielt werden konnte. Katherine Simpson behandelt Priorität 6: eine ausgewogene und fortschrittliche Handelspolitik unter Nutzung der Globalisierung, verbunden mit der Frage eines fairen Handels für alle. Beim Anliegen, Gleichberechtigung, Justiz und Grundrechte zu stärken (Henri de Waele), konnte die Juncker-Kommission die Konflikte mit Ungarn und Polen nicht lösen und reichte sie an die Nachfolger unter von der Leyen weiter. Liska Wittenberg fokussiert auf die Migrationspolitik, bei der Spannungen mit jenen Mitgliedstaaten zutage traten, die auf ihrer Souveränität beharrten. Die globale Rolle Europas untersucht Andreas Marchetti; Sarah Gansen und Katarzyna Nowicka beschäftigen sich mit der Politisierung der EU-Politik unter dem Stichwort "Demokratischer Wandel", der sich nicht auf den "Westbalkan" erstrecken konnte, da ein Beitritt in die EU am französischen Veto scheiterte. Welche Lektionen aus alldem gelernt worden sind und wie die Juncker-Kommission "politisierte Politiken" navigierte, behandelt abschließend Mitherausgeber Robert Stüwe.
Als Bilanz lässt sich festhalten, dass die Brüsseler Institution zunehmend auf eine gestiegene öffentliche Erwartungshaltung reagierte. Sie eignete sich damit eine Politik an, die traditionell den Mitgliedstaaten vorbehalten war und automatisch den Widerstand nationalstaatlicher Bürokratien und Politik provozierte, und versuchte dieser einen europäischen Stempel aufzudrücken. Die Europäisierung der Politik und die Politisierung der Agenda erwiesen sich mehr als Chance und weniger als ein Hemmnis für die Kommission selbst. Der Anspruch, eine politische Kommission zu sein, äußerte sich durch ein breites Spektrum von Akteuren und Schauplätzen. Angesichts des sich abzeichnenden Brexits durch das britische Referendum 2016 und einer drohenden EU-Desintegration, der hausgemachten Rechtsstaatskrisen und der feindlichen Umgangsweise des 2017 gewählten US-Präsidenten Trump mit der EU war Junckers Führungsansatz ehrgeizig und mutig, um die Legitimation supranationaler Integration zu unterstreichen. Um den Trend der Auslagerung von Aufgaben langfristig zu vermeiden, wurde es als entscheidend angesehen, die überstaatlichen Kompetenzen der EU in der Außenpolitik schrittweise zu stärken. Ein zaghafter, aber nachhaltiger Schritt in diese Richtung sollte 2015 die Einrichtung der Generaldirektion für Nachbarschafts- und Erweiterungsverhandlungen (DG NEAR) sein, um personelle und institutionelle Ressourcen zu bündeln, wie Robert Stüwe festhält.
Folgende Führungsstrategien konstatiert das ZEI-Forscherteam im Umgang der Juncker-Kommission mit dem Instrument der "Politisierung": Die Ernennung mehrerer Kommissionsmitglieder, die bereits Erfahrungen als Regierungschefs oder Minister gesammelt hatten; ein forcierter Kapazitätsaufbau, zum Beispiel durch Eintreten für stärkere supranationale Befugnisse der EU-Kommission; weiterhin eine Externalisierungstrategie zur Bewältigung negativer Auswirkungen der Politisierung, indem strittige Aufgaben an Dritte ausgelagert wurden (beispielsweise NATO, IWF, Türkei, Europarat), während zugleich der politisierte Themenrahmen bekräftigt wurde durch das Festhalten an den zehn politischen Prioritäten in den jährlichen Arbeitsprogrammen und die Benennung von Schlüsselprojekten der "Union". Weitere Strategieelemente waren die Personalisierung erfolgreicher Politiken (wie durch den Juncker-Plan) beziehungsweise die "Sicherheitsunion" und gemeinsame Verteidigungsprojekte als Reaktion auf die durch Eurobarometer-Umfragen belegte Forderung der Öffentlichkeit, die physische Sicherheit der EU-Bürger als europäisches öffentliches Gut zu behandeln. Außerdem kam die Juncker-Kommission Forderungen der Mitgliedstaaten entgegen, indem sie die interinstitutionelle Führung bei wichtigen EU-Rechtsvorschriften, insbesondere bei der Agenda für bessere Rechtsetzung, sowie das Krisenmanagement übernahm (etwa bei der Eurokrise, Handelskonflikten, der Migrationskrise, dem Streit zwischen Griechenland und Nordmazedonien).
Diese gleichzeitig zum zeitgenössischen Geschehen systematisch erfolgte Erforschung der Aktivitäten der Kommission von 2014 bis 2019 kann als Musterbeispiel dafür gelten, wie für Untersuchungen zukünftiger Beobachter und Analytiker der EU-Politik neue Maßstäbe gesetzt worden sind.
Michael Gehler