Kit Heyam: The Reputation of Edward II, 1305-1697. A Literary Transformation of History (= Gendering the Late Medieval and Early Modern World; 11), Amsterdam: Amsterdam University Press 2020, 347 S., ISBN 978-94-6372-933-8, GBP 99,00
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Edward II. von England (1284-1327) erfreut sich nach wie vor großer Bekanntheit weit über das Feld der Mediävistik hinaus. Schlachtenglück und/oder politisch-diplomatische Erfolge blieben ihm versagt. Doch war er der erste englische König, der nach einem ausgesprochen unorthodoxen Lebenswandel abgesetzt wurde. In den vier Jahrhunderten nach Edwards Tod 1327 bildete sich eine Art historiographischer Konsens in zwei Bereichen aus: zum einen wurde der Aussage, seine Beziehungen zu männlichen Favoriten, vor allem Piers Gaveston und Hugh Despenser d. J., seien sexueller Natur gewesen, immer größere Beachtung geschenkt, zum anderen wurde die Todesart selbst - Edward soll durch anale Penetration mit einem glühenden Eisen gestorben sein - vom bloßen Gerücht zur unumstößlichen Wahrheit. Diese beiden Aspekte waren und sind es, die das Bild Edwards in der Nachwelt bestimmen sollten.
Diese Erkenntnis ist nicht ganz neu - neu in Kit Heyams an der Universität York entstandener Dissertation ist aber der Bick darauf, wie und auf welcher Grundlage sich diese Reputation im Laufe der Zeit ausbilden konnte. [1] Auf der Basis unterschiedlicher Quellengattungen, von mittelalterlichen Chroniken über poetische Texte und politische Pamphlete bis hin zum frühneuzeitlichen Drama mit Christopher Marlowes 1594 erstmals gedrucktem Edward II im Zentrum, wird in insgesamt sieben, thematisch strukturierten Kapiteln der literarischen Transformation von Geschichte nachgespürt. Als ausgesprochen hilfreich für den Leser erweist sich dabei eine Auflistung aller zwischen 1305 und 1697 erfolgten Erwähnungen Edwards II. in der Literatur (289-332), in der nach Autor, Werktitel, Textgeschichte (samt Erwähnung moderner Editionen), Sprache, Quellenwert, Rezeption und Bedeutung aufgeschlüsselt wird. Der Leser tut gut daran, sich diese knappen Ausführungen zum besseren Verständnis des Ganzen immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Heyam ist mit Blick auf die von ihm ausgewerteten Quellen nicht an den "repositories of facts" (17), sondern am Einfluss auf die Herausbildung eines "Edward-Bildes" interessiert. Geoffrey le Bakers Chronicon (entstanden 1347-1360) mag auf der Faktenebene notorisch unzuverlässig sein, die anonyme Vita Edwardi Secundi hingegen hohen Quellenwert haben: Es war jedoch allein Geoffrey le Baker, der das Bild, das nachfolgende Generation vom ermordeten König haben sollten, beeinflusste. Diese Feststellung hindert Heyam freilich nicht daran, zum besseren Verständnis seiner Ausführungen historisch breit zu kontextualisieren.
Zu Recht wird zur Vorsicht bei der Übersetzung von Begrifflichkeiten wie sodomita oder minions aufgerufen. Mitunter schießt Heyam dabei jedoch über das Ziel hinaus und legt selbst eine zu große Ambiguitätstoleranz an den Tag. Wenn Froissart etwa mit Blick auf Hugh Despenser d. J. davon spricht, "qu'il estoit hérites et sodomittes enssi que on disoit, et meysmement dou roy mesme", dann läge eine (wie von Heyam vorgeschlagene) Übersetzung, in der Hugh als Sodomit des Königs (dou roy) benannt wird, nur dann im Bereich des Möglichen, wenn davon abstrahiert wird, dass das sinnleitende syntaktische Element, auf das sich et meysmement dou roy mesme bezieht, nicht disoit, sondern il ist.
Christopher Marlowe war der erste, der explizit und eindeutig davon sprach, Edward habe Sex mit Männern gehabt. So endete eine Zeit, in der Texte jedweder Couleur dieses sexuelle Engagement durchgängig ambivalent beschrieben hatten. Marlowe entsprach damit, so die These Heyams, auch den Erwartungen seines Publikums. Doch glaubte dieses Publikum daran, der englische König habe mit seinen männlichen Favoriten sexuelle Beziehungen unterhalten? Nicht von der Hand zu weisen ist eine Art von fortschreitender "Romantisierung" dieser Beziehung(en) - ein Prozess, der die emotionale Dimension des Verhältnisses in den Vordergrund rückt. Sie lässt sich nicht nur bei Marlowe beobachten, sondern hat Vorbilder, was Heyam etwa mit Blick auf die chronikalen Beschreibungen der Gefangennahme Gavestons in Scarborough 1312 zeigt.
Inwieweit war Edward II. dazu in der Lage, dem Willen seiner Favoriten entgegenzutreten, inwieweit verantwortete er selbst die politischen und sexuellen Sünden, die er beging?
Dieser interessanten Frage wird vor allem anhand der chronikalen und literarischen Darstellungen Gavestons nachgegangen. Grundsätzlich steht Gaveston für einen Angriff auf und die Inversion von traditionellen Werten: der Aufsteiger wird über den Adel gesetzt, der Fremde über den Einheimischen, der Lasziv-Frivole über den Ernsten und Praktisch-Denkenden, der Oberflächliche über den Tiefgründigen. Was motivierte Edward, ihn zum Favoriten zu machen? War es sein freier Wille, die Staatsgeschäfte zu vernachlässigen und durch sexuelle Grenzüberschreitung zu ersetzen? Die Vita Edwardi II musste noch das Moment der Zauberei bemühen, um diesen Bruch zu erklären, während in der Frühen Neuzeit der Vorwurf versandete und durch eine Reflexion über den von transgressiver Anziehung bzw. Liebe ausgelösten Kontrollverlust ersetzt wurde.
Edwards Favoriten wurden so zu Beispielfiguren in frühneuzeitlichen Texten, mittels derer das Favoritenunwesen des 16. und 17. Jahrhunderts beschrieben und kritisiert werden konnte. Sie stehen für eine "cultural obsession with Edward's story as a historical narrative of favourites with excessive political power and intimate access to the monarch" (207).
Kein Abschnitt im Leben Edwards II. wurde intensiver behandelt als seine Absetzung, Gefangennahme und Ermordung. Heyam demonstriert eindrücklich, welchen Stellenwert dabei "engaging anecdotes, emotionally compelling detail, and narrativity" (215) einnahmen. Sie waren es, die die Grundlage attraktiver Erzählungen bildeten und das narrative Kolorit lieferten, durch das Edward für sein Verhalten bis zur Absetzung kritisiert, danach aber bemitleidet werden konnte. Die de casibus-Elemente stellten, so Heyam, eine kreative Lösung mit dem Leser im Hinterkopf dar. Auch hier war es einmal mehr Geoffrey le Baker (von dem Antonia Gransden einst sagte, er habe "good stories" geliebt), der das farbige und hochgradig selektive Ausgangsmaterial lieferte, auf dem sich leser- und zuschauerorientiert aufbauen ließ.
Heyam leistet einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des Edward-Bildes in der Literatur. Diejenigen, die sich mit der Geschichte der Sexualität(en), mit der Geschichte von Literatur und Literaturkritik und dem Spannungsverhältnis von Literatur und Geschichte beschäftigen, werden von dieser Fallstudie profitieren. Sie zeigt, wie sich Edwards reputation im Zeitraum von 1305-1367 innerhalb und zwischen Texten unterschiedlicher Gattungen als Resultat kreativer literarischer Entscheidungen ausbilden konnte. Den rein faktenbasiert arbeitenden Historiker dürfte diese Vorgehensweise befremden, all diejenigen aber, die sich mit der Konstruktion von Identität und memoria im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit beschäftigen, dürften von der Lektüre einigen Gewinn davontragen.
Anmerkung:
[1] Bereits Mark Ormrod hatte auf die Bedeutung der "reputations" in diesem Bereich hingewiesen, vgl. W. M. Ormrod: The Sexualities of Edward II, in: The Reign of Edward II. New Perspectives, hg. v. Gwilym Dodd / Anthony Musson, Woodbridge 2006, 22-47.
Ralf Lützelschwab