Rezension über:

Julia Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung. Eine Bestandsaufnahme von Elementen historischen Denkens bei Besuchenden der Ausstellung «14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg» (= Geschichtsdidaktik heute; 12), Bern: hep Verlag 2020, 637 S., DOI: https://doi.org/10.36933/9783035516258, ISBN 978-3-0355-1625-8
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Rezension von:
Jakob Arlt
Historisches Institut, Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Jakob Arlt: Rezension von: Julia Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung. Eine Bestandsaufnahme von Elementen historischen Denkens bei Besuchenden der Ausstellung «14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg», Bern: hep Verlag 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/35682.html


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Julia Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung

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Museen sind komplexe geschichtskulturelle Phänomene. Die Analyse von musealen Darstellungen und die Erhebung von deren Einwirkung(en) auf das historische Denken der Besuchenden gehören zu den Herausforderungen der Beschäftigung mit Museen als eher "widerspenstigen" Institutionen der Geschichtskultur.[1] Julia Thyroff widmet sich im Rahmen ihrer 2020 erschienenen Studie - als Dissertationsschrift an der Universität Basel im Jahr 2018 eingereicht - diesem Themengebiet, verortet in einer Geschichtsdidaktik, die "über das historische Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht hinaus [...] Weisen des individuellen und gesellschaftlichen Umgangs mit Historischem [...] zu ihrem Gegenstand erklärt" (19).

Ausgehend von der Fragestellung "welche Elemente und Strukturen des Denkens und welche Aneignungsweisen sich bei Besuchenden im Verlauf des Besuchs einer historischen Ausstellung identifizieren lassen" (139), solle in der vorliegenden Studie darüber hinaus als spezifischer Aspekt untersucht werden, "inwiefern Besuchende bei ihren Äußerungen während des Ausstellungsbesuchs die eigene Person und Zeit thematisieren und einbringen" (ebenda). Um diese Forschungsfragen zu bearbeiten, wählte Thyroff einen bewusst offenen Ansatz, bei dem diese leitenden Fragestellungen lediglich als "heuristische Folie [betrachtet werden sollen], die bewusst sehr offen gehalten ist und Elemente eines aus der Theorie bekannten historischen Denkens beinhalten kann, aber nicht darauf beschränkt ist" (25).

Um ihre Forschungsfragen zu beantworten, gliedert Thyroff ihre Studie in neun Kapitel. Einführend werden zunächst die Motivation der AutorIn sowie theoretische Prämissen vorgestellt. Daran anknüpfend widmet sie sich im zweiten Kapitel vertiefend theoretisch-kategorialen Grundlegungen ihrer Studie unter anderem zu Museen, deren (historischen) Ausstellungen und Besuchenden sowie verschiedenen Konzeptionen historischen Denkens und Lernens (81-138). Daraus abgeleitet formuliert die AutorIn ihr Forschungsinteresse, ehe der Stand der empirischen Forschung zu Museums- und Ausstellungsbesuchenden referiert und die Studie darin verortet wird.

Dem angeschlossen geht es im sechsten Kapitel um eine Einordnung und Beschreibung der Methode des sogenannten "prozessbegleitenden Lauten Denkens" in Potentialen und Grenzen (27). Darauf aufbauend wird im siebten Kapitel der Erhebungsort, die Ausstellung "14/18. Die Schweiz und der Große Krieg" (28) sowie deren Hintergründe geschichtskultureller, historischer und historiografischer Natur vorgestellt (ebenda). Nachfolgend werden die Ergebnisse der Studie umfangreich kategorial entfaltet und ausgewertet (271-604). Die Arbeit schließt mit "Synthese und Fazit" (605) in einer Systematisierung der Ergebnisse und eine Rückbindung derselben an theoretische geschichtsdidaktische Modelle.

In ihrer qualitativ-empirischen Studie wählt die AutorIn die Methode des prozessbegleitenden Lauten Denkens (195) zur Datenerhebung von unbegleiteten StudienteilnehmerInnen während des Ausstellungsbesuches, da diese geeignet sei, über deren individuelle ""kognitive Vorgänge Aufschluss zu erhalten" (196). [2] In dem sie Einzelbesuchende während des Ausstellungsbesuchs in den Blick nimmt, füllt die Studie eine Lücke in der einschlägigen Forschung (192), welche bislang gemäß Thyroff prozessorientierte Untersuchungen von "Aneignungsweisen" eher selten mit prozessbezogenen "Verbalisierungen generierenden Forschungsmethoden kombiniert [hätte]" (193). [3] Wegweisend für die Studie sind dabei Arbeiten von Wineburg und Wise, wenngleich Thyroff ihrer Untersuchung andere theoretische Vorstellungen zugrunde legt - vor allem was die Vorstellung(en) historischen Denkens betrifft (189f.).

Die theoretischen Grundlegungen ihrer Arbeit positioniert die AutorIn sehr bewusst und sichtlich um Abgrenzung der Konzepte der teils interdisziplinären Diskussionsstränge bemüht. Hier seien beispielsweise die disparaten Vorstellungen zu Museen und historischem Lernen genannt sowie Verständnisformen im Hinblick auf museale Ausstellungen unter anderem als Medien in Aneignungsprozessen (95-112).

Bezogen auf die Besuchenden wählt Thyroff eine an aktuelle Forschungen angelehnte Vorstellung, welche diese nicht als passive RezipientInnen oder in einer Sender-Empfänger-Relation begreift, sondern vielmehr als aktive KonstrukteurInnen versteht, die sich durch die Ausstellung bereitgestellte Angebote individuell und eben aktiv-konstruierend aneignen. Um diese Lern- und Aneignungsprozesse der Besuchenden zu analysieren, greift Thyroff unter anderem auf die Rolle von Museen als (außerschulische) Lernorte und zugrundeliegende Vorstellungen historischen Lernens zurück. Sie begründet von einem favorisierten weiten Lernbegriff und einer Vorstellung von Ausstellungen als "Medium" ausgehend den Terminus "Aneignung", den sie aus der Medienpädagogik entlehnt, als Alternative zu etablierten Lernbegriffen (97-105).

Der Erhebungsort der Studie war die Ausstellung "14/18. Die Schweiz und der Große Krieg" (28). Das Sample der Studie besteht aus 30 Teilnehmenden (16), von denen jedoch nur das Datenmaterial von 18 Teilnehmenden für die Auswertung herangezogen wurde (26; 668), da die Daten aus technischen Gründen (Übertragungsqualität) oder auf Grund des "Datentypus" (Gruppenbesuch statt Einzelbesuchende) aus der Analyse ausgeklammert wurden (217f.). Die Datenaufnahme erfolgte in Audio und Video, um die verbalen Äußerungen als eigentlichen Forschungsgegenstand (220f.) durch den Videomitschnitt innerhalb der Struktur und in Beziehung zu einzelnen Ausstellungselementen verorten zu können (ebenda).

Die transkribierten Ergebnisse der momentbezogenen Äußerungen der Besuchenden im "Aneignungsprozess" wurden unter Anwendung eines "einfachen Transkriptionssystems" nach Dresing und Pehl vollständig transkribiert. Anschließend wurden diese Transkriptionen mittels inhaltlich-strukturierender Analyse nach Kuckartz auf Grundlage eines mehrheitlich induktiv gebildeten Kategoriensystems als kategorienbasierte Falldarstellung ausgewertet (240).

Die Struktur der Analysekategorien (274) gliedert die AutorIn dabei in Oberflächenstrukturen (277-299) und Tiefenstrukturen (304-592). Während die "Oberflächenstruktur" die "Besuchsverläufe" von Besuchende im Raum und im Kontakt mit Ausstellungselementen betrachtet, um in formal-struktureller Hinsicht zu untersuchen "was die Besuchenden [...] mit der Ausstellung tun" (275) und was sie überhaupt wahrnehmen, dient die Tiefenstruktur der Analyse dessen, "worüber die Besuchenden inhaltlich sprechen" (274). Dazu werden die Äußerungen der ProbandInnen auf zwei parallelen Ebenen (Themen und Fokussierungen) strukturiert, um schließlich die Fokussierungen (I-III) in einem mehrdimensionalen Kategorienmodell als Modellvorschlag zusammenzuführen (Fokussierungsmodell 605-609; 664-665). Abschließend wird das Fokussierungsmodell am Beispiel der "Sechs-Felder-Matrix" nach Schreiber in ein Verhältnis zu etablierten Modellierungen historischen Denkens gesetzt (609-616).

Ein besonderes Potential der Studie liegt unter anderem darin, aus dediziert geschichtsdidaktisch geprägter Perspektive einen empirisch fundierten Beitrag zur Museumsanalyse zu leisten. Jedoch zeigt die Darstellung sowohl in den Ergebnissen als auch in Methodenwahl und -kritik, wie komplex eine analytische Annäherung an die vielschichtigen und produktiv eigensinnigen "Aneignungen" von Besuchenden als holistische Erfahrung sind. Das illustriert auch das Nebeneinander und die stellenweise synonyme Verwendung von Begriffen wie "Aneignung"", "(historisches) Denken", "historisches Lernen"" und "Erfahrung" " (95-115), die hier in Annäherung an die komplexen Prozesse der "Tiefenstruktur" verwendet werden und so letztlich in terminologischen Unschärfen verbleiben, was mögliche produktive Abgrenzungen erschwert. Die Studie belegt darüber hinaus, wie die eingesetzte Forschungsmethode diese "Aneignungsprozesse" und deren (verbalisierte) Ergebnisse möglicherweise beeinflussen und modifizieren. Offen bleibt unter anderem die Frage, ob nicht ein Teil dessen, was die "Aneignung" der Ausstellung durch die Besuchenden insbesondere vor dem Hintergrund der durch Thyroff selbst konstatierten "großen Bandbreite von Erfahrungen beim Museums- und Ausstellungsbesuch" (98) ausmacht, sich gerade in den "Leerstellen" der Daten zeigt und damit entzieht, die im Prozessbegleitenden Lauten Denken eben nicht verbalisiert werden (können).

Die Arbeit weiß insgesamt jedoch zu überzeugen. Die luzide und gut lesbare Darstellung ist in vielerlei Hinsicht eine gute Grundlage für weitere geschichtsdidaktische Forschung im Bereich der Museumsanalyse. Neben der umfassenden Zusammenschau der für die Museumsanalyse relevanten Literatur zeigt der Band im Bemühen um die Anwendung der vorhandenen Konzepte, Kategorien und Methoden die Leerstellen v.a. in der empirischen Erforschung von Museen und leistet darüber hinaus mit dem Entwurf des Fokussierungsmodells einen fruchtbaren Beitrag für das Feld.


Anmerkungen:

[1] Joachim Baur: Was ist ein Museum? Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstandes, in: Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, hg. von dems., Bielefeld 2013, 15-48, 39.

[2] In Anlehnung an Ericsson und Simon legt Sie dabei den Fokus auf Verbalisierungen auf Level 1 und 2 (201), während Level-3-Verbalisierungen nicht untersucht werden.

[3] An dieser Stelle muss betont werden, dass die Studie in Anlehnung an Hooper-Greenhill (u.a.) zugunsten einer Schwerpunktsetzung auf eine prozessbegleitende Erhebungsmethode prospektive und retrospektive Erhebungsformen etwas zurückstellt (154-163).

Jakob Arlt