Roman Deininger / Uwe Ritzer: Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland, München: dtv 2021, 527 S., ISBN 978-3-423-28303-8, EUR 24,00
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Die Erinnerungen an die Spiele anlässlich der XX. Olympiade neuer Zeitrechnung 1972 in München, der "Weltstadt mit Herz", werden in der Nachbetrachtung beinahe vollständig überlagert vom Anschlag palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft. Elf Sportler, Trainer und Kampfrichter sowie ein deutscher Polizist wurden ermordet beziehungsweise kamen bei der völlig aus dem Ruder gelaufenen Befreiungsaktion ums Leben, ebenso fünf Terroristen. Dass auf deutschem Boden wieder Juden ermordet wurden, schien ein Menetekel werden zu können, wurde es aber glücklicherweise nicht. Dass danach die GSG 9, die Eliteformation deutscher Polizei, für solche Krisenlagen gegründet wurde, war diesem Anschlag auf die Spiele zuzuschreiben und dem Umstand, dass die Verantwortlichen beim blutigen Showdown auf dem Militärflugplatz Fürstenfeldbruck bei der scheinbar ziellosen Ballerei unter Tischen und anderswo Zuflucht suchen mussten. Auf 32 Seiten bündeln die Autoren, Journalisten der Süddeutschen Zeitung, das anfänglich zielgerichtete und danach hilflose Agieren der Terroristen und die vollkommene Planlosigkeit der deutschen Behörden, deren vordringliche Aufgabe es beinahe zu sein schien, die Spielregeln des Föderalismus einzuhalten. Soweit die schrecklichsten Stunden dieser "heiteren Spiele". Mehr lohnt es nicht zur hohlen Phrase von Sportfunktionären zu sagen, die eine Verbindung zwischen Sport und Politik wider besseres Wissen in Abrede stellen.
Wenden wir uns den Spielen zu: 36 Jahre nach Hitlers Berliner Olympiade kamen die Spiele erneut nach Deutschland. München, eine Stadt im Umbruch mit seinem sehr jungen Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (dem "Karajan der Kommunalpolitik", 104), erhielt nach einer beinahe spontanen Bewerbung 1966 den Zuschlag und nutzte die Möglichkeiten, die mit der Ausrichtung dieser Sportweltspiele verbunden sind: In wenigen Jahren wurde die Stadt mit einem Sportpark ausgestattet, der bis heute nicht nur architektonischen Weltruf besitzt. Das Zeltdach der Sportstätten am Münchener Oberwiesenfeld, direkt neben dem Trümmerberg, spiegelt eine Leichtigkeit sondergleichen, die wenige dem Architekten Günther Behnisch (im Krieg U-Boot-Kommandant) zugetraut hätten. Die neue U-Bahn ging 1971 bereits in Betrieb. Das Olympische Dorf, fußläufig zum Olympiapark, besaß kurze Wege und eine gute Anbindung an die Stadt. Viele Sportler haben das Dorf verlassen und bummelten durch die Metropole. Bewachung, wie früher in den Olympischen Dörfern zwangsläufig, gab es am Zaun zum Dorf kaum. Alle Hilfskräfte, selbst die Polizisten, waren in modisches Hellblau, Hellgrün oder Apricot gekleidet und als Sicherheitskräfte nicht erkennbar; unbewaffnet, versteht sich. Die Wege zwischen den Sportstätten waren mit Symbolen markiert, die Otl Aicher (Schwager der 1943 ermordeten Geschwister Scholl) entworfen hatte. Selbst der Kampf der Systeme Ost und West schien ungeachtet der vielen Erfolge der erstmals mit einer eigenen Mannschaft teilnehmenden DDR wenig Beachtung zu finden. Da passte es doch ins Programm, dass Heide Rosendahl in der 4 mal 100 Meter Staffel der Frauen Renate Stecher aus Jena auf der Zielgeraden niederkämpfte. Und wer erinnert sich noch an John Akibua, den ersten Olympiasieger aus Uganda, oder den rennenden Feuerwehrmann Lasse Viren aus Finnland? Mit einer einzigartig spannenden und bruchlosen Erzählung rufen beide Autoren in dieser Meistererzählung vieles hervor, was kultur-, medien-, politik- und sportgeschichtlich in diesen Jahren und seit 1936 (fokussiert auf den Sport) passierte und sich geändert hat. Ein umfassender gesellschaftlicher Wandel war nicht zu übersehen, auch weil die Spiele den Weg in das Fernsehen gefunden hatten und die deutsche Organisation dafür sorgte, dass jede Entscheidung im Farbfernsehen übertragen werden konnte. Das dazu eingerichtete Rundfunk- und Fernsehzentrum mit eigener Betreibergesellschaft leitete niemand geringeres als der bekannte Showmaster Robert Lembke als Geschäftsführer. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der Amerikaner Avery Brundage, glaubte bis dahin noch, dass Olympia sowieso das Fernsehen überleben werde und es auch gar nicht brauche. Nicht nur in diesem Punkt erwies sich der ansonsten durch Rassismus, Antisemitismus und dogmatischen Antikommunismus auffallende (und durch das Buch wandelnde) Brundage als ein aus der Zeit gefallener Opportunist. Im Übrigen achtete er streng darauf, dass jede Ausrichterstadt die Kosten dieser immer mehr ausufernden Veranstaltungen selbst stemmen würde. München wurde letztlich dreimal so teuer, wie anfänglich angenommen. Da halfen auch die Sondersilbermünzen zum Ausgabepreis von 10 Mark wenig, die in der Produktion nur 2,50 Mark kosteten und 750 Millionen Mark einbrachten. Stadt, Freistaat Bayern und der Bund teilten sich die Kosten nach längerem politischen Hickhack.
Beinahe eine Petitesse ist dann Folgendes: In Augsburg entstand am Ufer des Lech ein künstlicher Wildwasserkanal, auf dem die westdeutschen Sportler als hohe Favoriten auf die Goldmedaille galten. Die DDR baute ihn nahe Zwickau nach - und räumte dann die Medaillen ab. Ansonsten half das Staatsdoping, wie auch der Umstand, dass die "Staatsamateure" der Ostblockstaaten faktisch Vollprofis waren, während die West-Amateure hauptsächlich Studenten oder Arbeitnehmer waren oder Sportsoldaten der Bundeswehr, die es seit 1968/69 gab. Als der Zahnmedizinstudent und Schwimmer Mark Spitz nach einer seiner sieben Goldmedaillen seine Adiletten nicht an den Füßen, sondern in den Händen auf das Siegertreppchen trug und auch noch in die Kamera hochhielt, drohte eine Disqualifikation. Sie erfolgte zwar nicht, aber Werbung durfte trotzdem nicht sein! Der Amateur-Sport musste rein und werbefrei bleiben.
Diese Rezension könnte angesichts der flotten Erzählweise der Autoren in einer Wiederholung der zahlreichen "Geschichtchen" im Buch ausufern. Ersatzweise sollte diese Meisterzählung gelesen werden.
Heiner Möllers