Rezension über:

Ines Soldwisch / Rüdiger Haude / Klaus Freitag (Hgg.): Schrift und Herrschaft. Facetten einer komplizierten Beziehung, Bielefeld: transcript 2022, 270 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-5626-8, EUR 40,00
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Rezension von:
Tobias Schenk
Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Schenk: Rezension von: Ines Soldwisch / Rüdiger Haude / Klaus Freitag (Hgg.): Schrift und Herrschaft. Facetten einer komplizierten Beziehung, Bielefeld: transcript 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/37004.html


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Ines Soldwisch / Rüdiger Haude / Klaus Freitag (Hgg.): Schrift und Herrschaft

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Aus anthropologischer und soziologischer Sicht scheinen Schrift und Herrschaft in einer engen Wechselbeziehung zueinander zu stehen. Schrift erlaubt nicht nur die Fixierung von Eigentumstiteln, sondern auch die räumliche und zeitliche Ausweitung von Kommunikation und damit den Schritt von Interaktion zu Organisation. Aus diesen und zahlreichen weiteren Gründen wirkt die Annahme kausaler Zusammenhänge zwischen Literalität und Staatsbildung plausibel. Eine epochenübergreifend angelegte Tagung, die 2020 unter dem Motto "Schrift ohne Herrschaft. Herrschaftsverhinderung, Herrschaftsbestreitung und Herrschaftsumgehung im Medium der Literalität" am Historischen Institut der RWTH Aachen stattfand, setzte es sich zum Ziel, diese Sichtweise zu hinterfragen.

Dass der Titel im Zeitraum zwischen Tagung und Drucklegung eine Änderung erfuhr, wird nicht näher erläutert, dürfte allerdings der Erkenntnis geschuldet sein, dass Herrschaft den Dreh- und Angelpunkt von deren Verhinderung, Bestreitung und Umgehung bildet, so dass es kaum angeht, den Schriftgebrauch oppositioneller Gruppierungen in einem herrschaftsfreien Raum zu verorten. Doch auch unter neuem Titel wirkt die Konzeption nur bedingt überzeugend. Wenn einleitend betont wird, die politische Geschichte der Schrift gehe in deren herrschaftsstabilisierender Funktion nicht auf, sondern stelle sich als "ständiger Kampf um ihre herrschaftliche Einhegung bzw. ihre subversive Entgrenzung" (7) dar, bleibt offen, welche/r halbwegs ernstzunehmende Wissenschaftler/in jemals etwas anderes behauptet hat.

Beispielsweise betonte Jack Goody in seiner ethnologischen Analyse der gesellschaftlichen Auswirkungen von Literalität bereits vor Jahrzehnten, dass Schrift nicht nur der Herrschaft, sondern ebenso der Herrschaftskritik diene. [1] Der Ansicht des Mitherausgebers Rüdiger Haude, man habe gegen die "Annahme einer Eins-zu-eins-Entsprechung von Schriftlichkeit und Herrschaftlichkeit" (20) anzuschreiben, wird man also nicht ohne weiteres beitreten müssen. Zudem verwundert es, dass in einem Band, dem es um Schrift und Herrschaft geht, der zugrundeliegende Herrschaftsbegriff unklar bleibt. Die weberschen Idealtypen rationaler, traditionaler und charismatischer Herrschaft tauchen zwar in den Beiträgen von Hendrik Hess und Mitherausgeberin Ines Soldwisch en passant auf, werden vom Herausgebergremium jedoch ebenso wenig konzeptionalisiert wie neuere Modelle von Herrschaft als sozialer Praxis oder von Staatsbildung als kommunikativem Prozess.

Von derartigen Leerstellen einmal abgesehen wartet der Band jedoch mit lesenswerten Beiträgen auf. Zunächst analysiert Klaus Freitag das athenische Scherbengericht des 5. Jahrhunderts v.Chr., das im Rahmen von Volksversammlungen mit bis zu 10.000 Menschen stattfand. Die Teilnehmer konnten den Namen eines beliebigen Bürgers, der für zehn Jahre aus der Stadt verbannt werden sollte, auf eine Tonscherbe schreiben. Das kostenlose und allgemein verfügbare Beschreibmaterial erhöhte die soziale Reichweite der Zeremonie, zumal auch Analphabeten partizipieren konnten, die sich ihre Scherben von Dritten beschriften ließen. Die überlieferten Scherben bilden eine aufschlussreiche Quelle literaler Praktiken jenseits der Oberschicht und stützen die Annahme einer hohen Alphabetisierungsrate.

Spätantike Kritik an einer Herrschaft ohne Schrift thematisiert Christoph London anhand der Darstellung analphabetischer oder nur über basale Lese- und Schreibfähigkeiten verfügender Kaiser in der zeitgenössischen römischen Historiographie. Dabei wird deutlich, dass die untersuchten Autoren die Würde des kaiserlichen Amtes in Gefahr sahen, sobald es von einem Herrscher bekleidet wurde, der nicht zur selbständigen Ausfertigung rechtserheblicher Schriftstücke in der Lage war. Dieser als mangelhaft kritisierten Literalität wurde ein der frühen Kaiserzeit entnommenes Idealbild entgegengesetzt, das darauf abzielte, die spätantiken Soldaten- und Kinderkaiser auf das Kulturmodell jener zivilen Führungsschicht festzulegen, der die Historiographen selbst angehörten.

In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse des anschließenden Beitrags von Hendrik Hess, der am Beispiel der litterae dreier gallischer Bischöfe des ausgehenden 5. Jahrhunderts (Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges, Avitus von Vienne) die Funktion klassischer Bildung im Transformationsprozess von imperialer zu gentiler Herrschaft untersucht. Als Kennzeichen einer in die neue Zeit hinüberzurettenden nobilitas sollte Schrift den Niedergang der römischen Administration und den Bedeutungsverlust überkommener Ämter und Würden kompensieren und den "Übergangsrömern" (134) der Oberschicht zu sozialer Distinktion und Herrschaftspartizipation verhelfen.

Das Mittelalter ist mit einem Beitrag Giuseppe Cusas über die ostoberitalienischen Kommunen und Signorien des 13. und 14. Jahrhunderts vertreten, in denen die Geistlichkeit ihr Geschichtsschreibungsmonopol eingebüßt hatte. Die zahlreich überlieferten Annalen und Chroniken wurden vor allem von Notaren, Richtern und anderen Rechtspraktikern verfasst. Cusa zeigt auf, dass sich die in diesen Werken enthaltene Kritik an führenden städtischen Amtsträgern (Podestà) besonders in Padua zu einer Systemkritik an der im 13. Jahrhundert in Oberitalien aufkommenden Herrschaftsform der Signoria auswuchs.

Das Feld der Supplikationsforschung bearbeitet der Beitrag Thomas Kirchners, der sich mit einer Bittschrift auseinandersetzt, die katholische Frauen 1580 im Rahmen von Streitigkeiten um den konfessionspolitischen Status der Reichsstadt Aachen an Kommissare Kaiser Rudolfs II. richteten. Umsichtig lotet Kirchner Möglichkeiten und Grenzen der Auswertung von Suppliken aus, die bereits im 16. Jahrhundert zumeist mit Hilfe professioneller Schreiber entstanden und folglich nicht ohne weiteres als Ego-Dokumente gelten können.[2] Zu diskutieren bleibt meines Erachtens die These, dass Suppliken im Verkehr mit einer zunehmend schriftlich agierenden Obrigkeit den Übergang von Anwesenheits- zu Distanzkommunikation markieren (180). Schriftliche Kommunikation blieb in der Vormoderne häufig in Interaktionen eingebettet, und auch Kirchner erwähnt, dass die Supplik den Kommissaren auf offener Straße vor größerem Publikum überreicht wurde.

Auf die Philippinen führt der Beitrag Haudes, der sich mit dem Schriftgebrauch der auf der Insel Mindoro lebenden Ethnie der Hanunoo-Mangyan auseinandersetzt. Die egalitär strukturierte Gemeinschaft bedient sich bis in die Gegenwart hinein einer Schrift, die bereits einige Jahrhunderte vor der spanischen Eroberung im Zuge der Ausbreitung des Buddhismus von Indien nach Südostasien gelangte. Auffällig ist eine hohe Literalitätsrate von 60 bis 70 Prozent, die umso bemerkenswerter erscheint, als die Ethnie keinen formalen Lernzwang kennt. Ausschlaggebend ist allein die intrinsische Motivation Heranwachsender, die wiederum mit der poetischen Primärfunktion der Schrift im Rahmen der Brautwerbung zusammenhängt.

Den zeithistorischen Abschluss des Bandes bilden von Soldwisch untersuchte Samisdat-Schriften, die unter den repressiven Bedingungen des DDR-Staates darauf abzielten, durch Selbstverlage eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Die sich gegen Ende der 80er-Jahre professionalisierenden Druck- und Verteilungsmechanismen führten zu einer erheblichen Ausdehnung der Reichweite, bevor die "Illusion der systemkonformen Revolution" (263), der die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren anhing, 1989 rasch an ihr Ende kam.

Alles in allem hält man einen bunten Strauß in Händen, dessen Betrachtung zahlreiche Erkenntnisse vermittelt, jedoch kaum dazu geeignet erscheint, etablierte Sichtweisen auf den Zusammenhang von Schrift und Herrschaft einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen. Dies gilt vor allem dann, wenn man Herrschaft nicht als One-Man-Show, sondern als reziproke soziale Praxis begreift. Bei den im vorliegenden Band untersuchten schreibenden Akteuren handelt es sich häufig um Mitglieder sozialer Führungsschichten, die bei ihrer Herrschaftskritik auf Ressourcen zurückgriffen, die jene Herrschaft bereitstellte, an der sie selbst partizipierten. Selbst die Supplik der Aachener Katholikinnen entstand unter Federführung der Ehefrau eines katholischen Bürgermeisters und Ratsherrn (193). Auch dort, wo es auf den ersten Blick anders aussehen mag, trug Literalität im Rahmen vormoderner Aushandlungsprozesse also zu jener "Entmündigung durch Experten" [3] bei, die Ivan Illich als Kennzeichen der Moderne bezeichnet hat. Fazit: Dass Schrift nichts mit Herrschaft zu tun hat, ist nicht unmöglich. Die Hanunoo-Mangyan beweisen es. Epochenübergreifend ist es aber - um ein Lieblingswort Niklas Luhmanns zu verwenden - ziemlich unwahrscheinlich.


Anmerkungen:

[1] Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, 203.

[2] Weiterführend wäre in diesem Zusammenhang das Konzept der Legal Literacy. Siehe Mia Korpiola (Hg.): Legal Literacy in Premodern European Societies, Cham 2019.

[3] Ivan Illich (Hg.): Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek 1979.

Tobias Schenk