Mirjam Sprau: Kolyma nach dem GULAG. Entstalinisierung im Magadaner Gebiet 1953-1960, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, IX + 408 S., 70 Abb., ISBN 978-3-1106-8254-0, EUR 27,95
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Der Rückbau des Gulag veränderte die Sowjetunion grundlegend. Nirgendwo wird dies so deutlich wie im Gebiet Magadan. Denn hier, an der Kolyma, war der Gulag keine Parallelwelt, sondern Normalität. In ihrer Bremer Dissertation macht Miriam Sprau deutlich, welche Erkenntnisse der sowjetische ferne Osten für eine historische Beurteilung der Zäsur bereithält, die Stalins Tod für das gesamte Reich bedeutete. Die Auflösung der Lager beschreibt sie mit dem Leitbegriff der Sowjetisierung. Darunter versteht sie die Abschaffung des militärischen Sonderstatus, mit der die entlegene Region, die immerhin ein Siebtel des gesamten sowjetischen Territoriums umfasste, in die regulären Strukturen ziviler Gebietsverwaltung eingegliedert wurde. Dieser Schritt war überfällig, brachte aber auch neue Probleme mit sich, wie die sorgfältig ausgewerteten Quellenbestände in den einschlägigen staatlichen Archiven, der Magadanskaja Pravda als wichtigster Lokalzeitung sowie einiger weniger privater Erinnerungen zeigen. Nur das Parteiarchiv zeigte sich zugeknöpft.
Der Aufbau ziviler Strukturen führte auf vielen Gebieten zu tiefgreifenden Veränderungen. Der Lagerkomplex Dal'stroj wurde zum Kombinat und unterstand wirtschaftlich fortan dem Ministerium für Metallwirtschaft. Für die selbstherrlichen Offiziere war es ein herber Statusverlust, dass sie sich fortan mit zivilen Behörden und Parteisekretären abstimmen sollten. Lagerhäftlinge konnten fortan nur zu unionsweit geltenden Standards an die Gold- und Zinnförderung abgestellt werden. Neue Vorschriften zu ihrer Ernährung und zur Hygiene in den Baracken schienen den Zuständigen völlig realitätsfern. Der Versuch, entlassene Häftlinge als freie Arbeitskräfte zu beschäftigen, musste rasch als gescheitert gelten. Amnestierte Schwerkriminelle machten die Region nahezu unkontrollierbar. Die ohnehin rückläufige Goldförderung brach ein. Vor diesem Hintergrund wurde der Aufbau ziviler Verwaltungsstrukturen zum Machtkampf. Ivan Mitrakov, bisheriger Alleinherrscher über Dal'stroj, wurde im Oktober 1953 auf offener Bühne von einem Parteisekretär beleidigt. Diese Krisenerscheinungen waren jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die neuen Zuständigkeiten zogen den Aufbau ziviler Infrastruktur nach sich, die der Region bislang fremd gewesen war. Auf die mentale Inbesitznahme folgten ein ziviler Flugbetrieb, erste Anfänge eines öffentlichen Gesundheitswesens und privaten Wohnungsbaus. Briefkästen wurden aufgehängt. Möglich war dies auf der Grundlage umsichtiger Personalpolitik, welche die wechselseitigen Abhängigkeiten im Blick behielt und den zivilen Strukturen Schritt für Schritt jenen Wissensvorsprung erarbeitete, der binnen weniger Jahre zur Auflösung von Dal'stroj führte.
Hinter alldem stand nicht zuletzt ein handfestes wirtschaftliches Kalkül. In einem eigenen Kapitel zeigt Miriam Sprau eindrücklich, dass das Gold an der Kolyma anfangs in extensivem Raubbau geschürft worden war, der sich schon in den späten 1940er-Jahren erschöpft hatte. Das Primat der Rohstoffausbeutung blieb zwar ungebrochen. Die Übergabe an zivile Institutionen brachte jedoch die enormen finanziellen Verluste ans Licht und legte zugleich die Grundlagen für den Übergang zu einer rationaleren, intensiven Förderung. Wissen spielte auch hier eine zentrale Rolle. Geologen bereiteten einer planvollen Erschließung neuer Gold- und Zinnvorkommen den Weg. Als Wissenschaftsstandort gewann die Stadt Magadan den Anschluss an andere sowjetische Zentren. Private Abbauaktivitäten steigerten ebenfalls die Erträge, führten aber zu erheblichen Unterschlagungen. Auch der Versuch, neue Industriezweige anzusiedeln und das Gebiet landwirtschaftlich abzusichern, blieb prekär. Spraus Bilanz der Zwangsarbeit ist trotz solcher Probleme eindeutig. Auch wenn mancher Lokalhistoriker dies anders sehen mag: Als Inbegriff des Vorwärtsstürmens und aufgrund ihrer hohen Flexibilität mochte Zwangsarbeit der stalinistischen Sowjetunion entsprechen, wirtschaftlich war sie jedoch hochgradig ineffizient.
Unter dem Titel "Beherrschen und Versorgen" wendet Sprau sich in einem eigenen Kapitel den Lebensverhältnissen im fernen Osten zu, den sie als Brennglas des Übergangs von Repression zu paternalistischer Sozialpolitik betrachtet. Hier treten die Schattenseiten der neuen Ordnung deutlich hervor. Was als radikaler Neubeginn für heroische Pioniere inszeniert wurde, konnte Facharbeiter und Komsomolzen nur für kurze Zeit anlocken. Harte Arbeit im harten Klima mochte sich noch als sowjetisches Heldentum präsentieren lassen. Wer einmal am Ort war, sah jedoch auch, dass viele Arbeiter unter Silikose litten. Hinzu kam die Gefahr schwerer Arbeitsunfälle. Solche Risiken ließen sich auch durch Zulagen, Vergünstigungen und sozialpolitische Einrichtungen nur bedingt ausgleichen, schon gar wenn in klirrenden Wintermonaten selbst im Krankenhaus Minusgrade herrschten. Der Alkoholmissbrauch war endemisch, regelmäßige Vergewaltigungen wurden von den Behörden vertuscht. Die Kluft zwischen inszenierter Normalität und erbärmlichen Wohn- und Lebensverhältnissen blieb tief. Entsprechend hoch war die Fluktuation der Arbeitskräfte. Immerhin wurde es möglich, neben dem teils unerträglichen Kitsch der Lokalpresse auch Missstände anzusprechen und die Probleme ganz im Stil der Zeit einer überwundenen Epoche verbrecherischer Verzerrungen anzulasten, ohne die sowjetische Erfolgsgeschichte grundsätzlich in Frage zu stellen.
Miriam Sprau hat mehr als eine kenntnisreiche, erhellende Lokalstudie zur Sowjetunion unter Chruščev vorgelegt. Das Kennzeichen dieses Jahrzehnts sieht sie in einer inszenierten Zivilisierung, in der die tatsächlichen Verhältnisse als Abweichung von einer 'eigentlichen' Realität erlebt werden konnten. Der These, die sowjetische zivilisatorische Mission sei nach Stalins Tod an der Peripherie einem 'reinen Verwalten des Status quo' gewichen, widerspricht sie mit Blick auf die indigene Bevölkerung entschieden (321). Warum die Arbeit allerdings bis in den Titel hinein am Begriff der Entstalinisierung festhält, obwohl sie dessen Kritik eingangs umfassend referiert und diese mit ihren Befunden noch zuspitzt, bleibt ebenso unklar, wie die Frage, ob der von Pavel Kolář in ganz anderen Kontexten eingeführte Begriff des Poststalinismus eine tragfähige Alternative bietet. Sprau benutzt beide Termini nahezu synonym. Dabei böten die Einsichten in die vielschichtigen Veränderungen der Sowjetunion nach Stalins Tod, die sie am extremen Beispiel gewinnt, durchaus Stoff für eine eingehendere Diskussion.
Joachim von Puttkamer