Rezension über:

Robert J. Porwoll / David A. Orsborn (eds.): Victorine Restoration. Essays on Hugh of St Victor, Richard of St Victor, and Thomas Gallus (= Cursor Mundi; Vol. 39), Turnhout: Brepols 2021, 376 S., 2 Farb-, 15 s/w-Abb., 4 Tbl., ISBN 978-2-503-58513-0, EUR 110,00
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Rezension von:
Matthias M. Tischler
ICREA/Universitat Autònoma de Barcelona
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Matthias M. Tischler: Rezension von: Robert J. Porwoll / David A. Orsborn (eds.): Victorine Restoration. Essays on Hugh of St Victor, Richard of St Victor, and Thomas Gallus, Turnhout: Brepols 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36277.html


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Robert J. Porwoll / David A. Orsborn (eds.): Victorine Restoration

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Kaum eine hochmittelalterliche Schule der Frühscholastik dürfte inzwischen so gut erforscht sein wie die der sog. Viktoriner der Augustinerchorherrenabtei Saint-Victor zu Paris während des 12. und 13. Jahrhunderts, die mit Hugo ihren ersten bedeutenden Lehrer hatte. Die Attraktivität dieser Schule spiegelte sich nicht nur in der großen Anzahl von nicht zuletzt auswärtigen Schülern, die aus ganz Europa nach Paris strömten, um lange vor der Gründung der Sorbonne zu Füßen Hugos, aber auch Richards und anderer Lehrer zu studieren. Die reiche Literaturproduktion der Viktoriner, aber auch die reichhaltige Bibliothek von Saint-Victor sind immer wieder Gegenstand der internationalen Forschung gewesen und haben die Grundlage für ein vertieftes Studium der bedeutenden, aber auch weniger bekannten Autoren unter den Viktorinern geschaffen. Die nun schon seit mehreren Jahrzehnten intensiv betriebene und hierbei zunehmend internationalisierte, aber auch spezialisierte Viktoriner-Forschung in ihrer Gesamtheit zu überblicken, fällt einem einzelnen Forscher zunehmend schwer, so dass inzwischen Handbücher und Sammelbände zu den Viktorinern erschienen sind, die Orientierung im verwirrenden Dickicht der Publikationen versprechen. Der hier anzuzeigende Sammelband ist die jüngste einer ganzen Reihe von derartigen Publikationen.

Gleichwohl unterscheidet sich der Band in seinem Konzept von diesen jüngeren Publikationen, da er sich wieder dem Œuvre einzelner großer Autoren der Viktoriner Schule zuwendet, und zwar den drei wohl bedeutendsten: Hugo, Richard und Thomas Gallus. Hinsichtlich des Anteils der Beiträge pro Autor zeigt die Publikation vielleicht auch eine neue Konstellation in der Schwerpunktsetzung der Erforschung an: vier, vier und zwei. Verschiebt sich etwa das Interesse zunehmend zugunsten Richards und des noch weniger erforschten Thomas Gallus oder spiegelt sich hier nur eine persönliche Vorliebe der beiden Band-Herausgeber?

In einer ungewöhnlich ausführlichen Einleitung (11-42) ordnet Robert J. Porwoll, einer der beiden Bandherausgeber, die Viktoriner und ihren großen zeitgenössischen und späteren Einfluss gleich in mehrere Kontexte ein: den der allgemeinen Kirchen-, wie der speziellen Kanonikerreform seit dem 9. bzw. 11. Jahrhundert, dann in das spannungsreiche politisch-soziale Umfeld von Paris und seinem kapetingischen Hof, und schließlich in die früh- und hochscholastische Schullandschaft, die sich zu dieser Zeit in der Kapitale des Königreichs Frankreich herauszubilden begann. Dieser viel zu lange Anlauf ist zwar gut gemeint, hätte aber deutlich kompakter ausfallen können, zumal das Viktoriner Fachpublikum die wichtigsten Fakten rund um Saint-Victor hinreichend kennt. Eine demgegenüber wiederum zu kurze Vorstellung der im Band behandelten Autoren und ihrer Hauptthemen, die eine ausführlichere Kontextualisierung in der mittelalterlichen Theologiegeschichte verdient gehabt hätten, schließt die doch recht langatmige Einführung von über 30 Seiten ab. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier den Gepflogenheiten des anglo-amerikanischen Genres eines Handbuchs für fortgeschrittene Studierende und Dozenten, nicht aber eines kontinentaleuropäischen Sammel- oder Themenbands gefolgt wird. Dafür spricht auch, dass der Band nur englischsprachige Beiträge aufweist, was im Übrigen als ein Indiz für die zunehmende linguistische Verarmung der internationalisierten theologischen Mediävistik gewertet werden muss. Dem entsprechend fallen immer wieder fehlerhafte lateinische Zitate in dem einen oder anderen Beitrag auf, die offensichtlich keiner genauen Revision unterzogen wurden.

In drei Blöcken folgen die Abhandlungen zu den genannten Autoren. Gemeinsames Kriterium dieser Kapitel ist ihr Fokus auf deren Hauptwerke bzw. -themen, so dass man den Band in zweierlei Perspektive lesen kann: entweder als eine generelle Einführung in das weite Bildungspanorama der Viktoriner Schule oder als Handbuch zur selektiven Orientierung auf den Gipfeln dieses gewaltigen Gebirges mittelalterlicher Scholastik. In zwei Fällen sind die Kapitel sogar von den Editoren der momentan maßgebenden modernen Textausgaben geschrieben - von Rainer Berndt zu Hugos De sacramentis Christianae fidei und von Dominique Poirel zu desselben Super Ierarchiam Dionisii - wobei beide Beiträge jeweils ins Englische übersetzt worden sind. Eine ausführliche Bibliographie der zitierten Texte und Studien (329-361) sowie ein kumulatives Register (363-376) beschließen den Band.

Es fällt schwer, alle hier gebotenen Beiträge im Detail zu würdigen. Generell lässt sich sagen, dass alle auf der Höhe ihrer Zeit geschrieben sind, also einen sehr guten Zugang zur Forschungslage zu den einzelnen Autoren und Werken liefern, die maßgeblichen Editionen und Studien kennen und ein sehr dichtes Bild des jeweils gewählten Themas liefern. Die Kapitel sind anhand der Originaltexte geschrieben und mit zahlreichen Belegen in den Fußnoten versehen, weshalb sie mehr zum intensiven Studium denn zur flotten Lektüre einladen. Trotz des Auswahlcharakters an Autoren und Werken vermitteln sie ein für die Viktoriner repräsentatives Bild, da sie Charakteristika und Kontinuitäten dieser Schule herauszuarbeiten vermögen, aber auch Fortentwicklungen und Brüche deutlich werden lassen. Die Beiträge zu Hugo behandeln sein Trinitätsverständnis in der Exegese (Andrew B. Salzmann, 45-97), die Theologie der Sakramente in der oben schon erwähnten Summe De sacramentis Christianae fidei (Rainer Berndt, 99-121), die pädagogischen Vermittlungsstrategien seines Exegese- und Theologieverständnisses in kürzeren Traktaten wie dem Libellus de formatione arche (Conrad Rudolph, 123-146), und seine eingehende Auseinandersetzung mit dem ebenso schon genannten Werk zur Himmelshierarchie des Pseudo-Dionysius Areopagita (Dominique Poirel, 147-172).

Sehen wir bei Hugo noch ein umfassendes und rigoroses Bildungs- und Erziehungsprogramm mit einer eindeutigen Ausrichtung auf bibelexegetische, doktrinale, spirituelle und mystische Fragen, so verschieben sich die Interessen bei seinem Nachfolger Richard mehr in Richtung Mystik und Kontemplation. Hier setzt ein Konzentrations- und Vertiefungsprozess hinsichtlich des von Hugo gelegten Fundaments ein, da andere Merkmale der hugonischen Schule ähnliche Tendenzen durchlaufen, man denke hier nur an das Bemühen von Richards Rivalen Andreas von Saint-Victor Hugos Literalexegese zu intensivieren. Die Beiträge zu Richard beschäftigen sich mit seiner Auffassung von weder allein affektiver noch intellektualisierender Kontemplation im Werk De arca mystica (Benjamin maior) (Ineke van 't Spijker, 175-195), dazu ergänzend mit seinem De duodecim patriarchis (Benjamin minor), einer dem Benjamin maior in den Handschriften oft vorausgehenden Fallstudie von erfahrungsgesättigter Bibelauslegung (David A. Orsbon, 197-218), mit seinem Trinitätsverständnis, eingebettet in die großen trinitarischen Debatten des 12. Jahrhunderts (Nico den Bok, 219-251), und hieraus wiederum hervorgehend mit seinem in De quatuor gradibus violentae caritatis entwickelten Liebeskonzept (Kyle Rader, 253-266).

Schon in eine andere Zeit, nämlich in die Schlussphase der noch blühenden Viktoriner Schule des frühen 13. Jahrhunderts gehört dann Thomas Gallus, der seinerseits Anregungen Hugos und Richards aufgreift und seiner Zeit gemäß weiterentwickelt. Die beiden Beiträge zu Thomas behandeln dementsprechend sein umfangreiches und vielfältiges Werk, in dem sich als gemeinsames Merkmal zum einen das Konzept einer intellektuellen wie affektiven Erkenntnis, zum anderen das Anknüpfen an die frühere Viktoriner Beschäftigung mit der Kontemplation und hierbei insbesondere mit dem gesamten Werk des Pseudo-Dionysius erkennen lässt (Csaba Németh, 269-295). Sein spätes und zugleich reifstes Werk, die Explanatio in libros Dionysii, das Thomas' Abhängigkeit von Hugos und Richards Arbeiten aufzeigt, zugleich aber seine mögliche Einflussnahme auf mystische und franziskanische Autoren seiner und späterer Zeit thematisiert, ist Gegenstand der Ausführungen von Katherine Wrisley Shelby (297-327).

Was bleibt im Ausblick zur Viktoriner Forschung im 21. Jahrhundert zu sagen? Anhand des hier besprochenen Bandes ist zu sehen, wie weit die Erforschung des Zentrums Paris und seiner Autoren und Werke vorangeschritten ist und doch weiterhin kritischer Grundlagenarbeit bedarf - und zwar nicht nur der eingehenden Interpretationen der Werke und ihrer kritischen Edition, sondern generell der Aufarbeitung des umfassenden geistigen Kosmos der in großen Teilen erhaltenen Bibliothek von Saint-Victor. Nach der Nekrolog- und Bibel-Überlieferung der Abtei wird gegenwärtig ihre Liturgie verstärkt in den Blick genommen. Daneben wäre auch der reiche weitere, im Geiste Hugos einer möglichst umfassenden Bildung gesammelte Bestand an Literatur in der Bibliothek von Saint-Victor hinsichtlich der Herkunft seiner Vorlage zu untersuchen, um das intellektuelle Netzwerk der Abtei besser zu verstehen.

Damit kommen wir zu einem zweiten Punkt: Der Fokus auf ein Bildungszentrum, das europaweit Schüler nach Paris lockte, muss gerade auch auf die Peripherien gelegt werden, aus denen diese stammten, zumal dieses Zentrum über seine Schüler und die aus Paris mitgebrachten Ideen und Handschriften europaweit ausstrahlte. Erst wenn die praktische Wirkung der Werke Hugos, Richards und des Thomas Gallus, aber auch der weiteren Viktoriner Autoren und Produkte im Spiegel dieser Randperspektive ausgeleuchtet wird - und zwar sowohl in Regularkanonikerkreisen wie auch anderen regulierten, etwa monastischen, und klerikalen Gemeinschaften - kann das Phänomen der Viktoriner Schule zur Gänze erfasst werden.

Es gibt kein kulturelles Zentrum ohne seine Peripherie und umgekehrt. Die eigentliche Herausforderung der künftigen Viktoriner Forschung besteht demnach in der kulturgeographischen Beschreibung und Profilierung der europäischen Dimension dieser (und anderer) Schulen der Scholastik.

Matthias M. Tischler