Norman Domeier / Christian Mühling (Hgg.): Homosexualität am Hof. Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 74), Frankfurt/M.: Campus 2020, 403 S., ISBN 978-3-593-51076-7, EUR 39,95
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Die Geschichte des Fürstenhofs wurde in den letzten Jahren vermehrt aus körper-, frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive ausgeleuchtet. Systematische sexualitätsgeschichtliche Arbeiten hingegen, so konstatieren die beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes, liegen bislang kaum vor. Norman Domeier und Christian Mühling greifen mit der Homosexualität ein spezifisches Feld der Sexualitätsgeschichte heraus und versammeln in ihrem Band Beiträge, welche dessen Verschränkung mit der Geschichte des Fürstenhofs zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert untersuchen. Verfasst wurden diese Beiträge sowohl von Kenner*innen der Geschichte des Fürstenhofs wie auch von Spezialist*innen der Sexualitätsgeschichte. Die vorwiegend von Historiker*innen verfassten Beiträge werden durch Beiträge aus der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Musikwissenschaft ergänzt.
Im Band finden sich insgesamt 16 Beiträge in deutscher und englischer Sprache, die in sechs Sektionen gegliedert sind. Die ersten vier Sektionen fokussieren nacheinander auf die Aspekte "Geschlechterbeziehungen", "Inklusion und Exklusion", "Diffamierungsstrategien" und "literarische, musikalische und künstlerische Repräsentationen". Die fünfte Sektion widmet sich mit dem 18. Jahrhundert einer "Blütezeit homosozialer Liebe", während die letzte Sektion mit Beiträgen zum arabisch-persischen Raum und zu China eine globalgeschichtliche Öffnung bietet, die den genuin höfischen Kontext aber nur sehr bedingt berücksichtigt. Eine Einleitung der Herausgeber sowie ein Fazit von Franz X. Eder runden den Band ab.
Die hier gebotene Kürze erlaubt es nicht, allen im Band versammelten Beiträgen gleichermaßen gerecht zu werden. Deshalb soll im Folgenden anhand einiger Texte exemplarisch auf die Verdienste des Bandes hingewiesen werden. Heide Wunders allgemeine Überlegungen zu Macht und Geschlecht zeigen auf, warum am frühneuzeitlichen Fürstenhof mann-männliche sexuelle Beziehungen nicht als besonders problematisch galten, solange dynastische Pflichten erfüllt wurden. Dass solche Beziehungen vereinzelt sehr explizit zur Sprache kamen, zeigt Charlotte Backerra in ihrer Analyse des Tagebuchs Karls VI. (1685-1740, r. 1711-1740). Auch wenn spätere Historiker dies vielfach nicht wahrhaben wollten, finden sich darin eindeutige Hinweise auf dessen sexuelle Beziehung zum geliebten Kämmerer Michael Johann Graf Althann (1679-1722). Wie Backerra analysiert auch Christian Mühling ein Tagebuch, das aber nicht aus der Hand eines Herrschers, sondern des Grafen Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff (1727-1811) stammt. Die Liebe des Grafen zum preussischen Prinzen Heinrich (1726-1802) ist ein Hauptthema dieser Aufzeichnungen. Verweise auf explizit sexuelle Handlungen fehlen darin zwar; trotzdem kann Mühling zeigen, dass es sich bei der Beziehung zwischen dem Grafen und dem Prinzen um eine homosoziale Liebe mit erkennbarer körperlicher Komponente handelte. Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive befasst sich Anna Bers mit dem Roman Kyllenion. Ein Jahr in Arkadien (1805) aus der Feder Augusts von Sachsen-Gotha-Altenburg (1772-1822, r. 1804-1822). Sie zeigt, dass die in diesem Text geschaffene "ferne, künstliche und daher unverdächtige Welt" (339) es zuließ, dass darin homosexuelle Handlungen stattfinden.
Anregend sind auch Günther Wassilowskys Überlegungen zu mann-männlichem Begehren an der römischen Kurie. Die Tatsache, dass die Forschung zum Pontifikat Pauls V. (1605-1621) - bekannt als das besterforschte Pontifikat der Frühen Neuzeit - die "durchaus verflechtungsentscheidend[en]" homosexuellen Praktiken des Papstnepoten Scipione Borghese außer Acht ließ (85), zeigt, dass es (bei allen Quellenproblemen) auch für die Patronageforschung gewinnbringend sein könnte, sich körper- und sexualitätsgeschichtlichen Perspektiven zu öffnen. Norman Domeier zeigt in seinem Beitrag zum Eulenburg-Skandal, wie im wilhelminischen Kaiserreich der Vorwurf der Homosexualität als "sexuelle Normwidrigkeit" den Vorwurf der "politischen Normwidrigkeit" des Hofes verstärkte. Im Kontext der nationalistischen Aufladung von Männerbeziehungen im 19. Jahrhundert wog dieser Vorwurf besonders schwer.
Ein analytisch besonders gewinnbringender Beitrag stammt von Djro Bilestone Roméo Kouamenan, welcher den in der Literatur wiederkehrenden Homosexualitätsvorwurf gegen den englischen König Edward II. (1284-1327, r. 1307-1327) in überzeugender Weise dekonstruiert. Der Beitrag zeigt, dass Handlungen und Aussagen, deren Konnotation als "homosexuell" für heutige Leser*innen evident zu sein scheint, sich im frühen 14. Jahrhundert in gänzlich andere diskursive Zusammenhänge einfügten, die mit politischer Illegitimität viel mehr zu tun hatten als mit Homosexualität. Virgina Hagn zeigt im Gegenzug, dass in der Vormoderne generell eine "'begriffliche Unkenntlichkeit' von Körperlichkeiten zwischen Frauen" außerhalb bestimmter Konzepte wie Sodomie zu konstatieren ist. In ihrem Beitrag zur Beziehung zwischen Isabella von Parma (1741-1763) und Marie Christine von Österreich (1742-1798) zeigt sie, dass diese Unkenntlichkeit die Forscherin in einen "schwer zu fassende[n] Raum" führt, "in dem sich Frauen miteinander bewegen konnten, ohne sich als 'anstössig' oder von der Norm abweichend zu erleben." (317). Die beiden Beiträge verweisen exemplarisch auf die wichtigsten Fallstricke, die mit dem Vorhaben verbunden sind, das Konzept der "Homosexualität" an die Vormoderne heranzutragen: Homosexuelle Handlungen sind in den Quellen oft nicht sichtbar, und was auf den ersten Blick auf sie zu verweisen scheint, erweist sich bei genauerer Analyse oft als falsche oder doch zumindest schwer lesbare Fährte.
Nicht allen Beiträgen gelingt es, diese Fallstricke zu umgehen. Tatsächlich bleibt der Band mit Blick auf die sexualitätshistorisch zentrale Frage, was genau "Homosexualität" vor der "Erfindung der Homosexualität" im späten 19. Jahrhundert überhaupt war oder sein konnte, unentschlossen. In der Einleitung stellen die Herausgeber zwar fest, dass vor dem 19. Jahrhundert Menschen "nicht in binäre Kategorien wie Homo- und Heterosexualität eingeordnet" wurden (11); gleichzeitig gehen sie aber davon aus, dass auch für frühere Epochen "homosexuelle Lebenswelten" (17) erschlossen werden können.
Diese analytische Unentschlossenheit produziert im Verlaufe des Bandes einige unauflösbare Aporien. So verwenden beispielsweise manche Beiträge das Adjektiv "homosexuell" für die Beschreibung vormoderner Menschen ohne Bedenken, während andere darin einen Anachronismus sehen und deshalb darauf verzichten. Die Richtung aus diesem Dilemma würde der Beitrag von Klaus van Eickels weisen, der bemerkt, dass sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts die Sichtweise etablierte, wonach gewisse Menschen tatsächlich homosexuell zur Welt kamen. In der Vormoderne war dies anders: Man ging davon aus, dass homosexuelles Begehren allen Menschen passieren konnte. Eickels bemerkt ganz richtig, dass uns dies davor warnen sollte "to speculate about the 'sexual orientation' of medieval rulers" (202).
Trotz dieser fehlenden analytischen Stringenz lesen sich viele der im Band versammelten Beiträge mit großem Gewinn. Es ist der Verdienst dieses Bandes, sich erstmals in ein bislang weitgehend unbekanntes historisches Terrain vorzuwagen und eine Kartierung davon vorzulegen. Wie Franz X. Eder in seinem Fazit bemerkt, bleibt zu hoffen, dass diese Kartierung Anstoß zu weiteren Forschungen geben wird, welche sich der Geschichte der Sexualität an Fürstenhöfen "auf Augenhöhe mit den historischen Akteuren und ihrer Weltsicht" (385) nähert.
Nadine Amsler