Franziska Davies / Ekaterina Makhotina: Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2022, 286 S., ISBN 978-3-8062-4432-8, EUR 28,00
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Manches Buch ist ein wahrer Glücksfall - nämlich dann, wenn es thematisch nicht nur zur rechten Zeit kommt, sondern seine Themen auch noch überzeugend behandelt. Ein solches Buch ist Franziska Davies und Katja Makhotina mit "Offene Wunden Osteuropas" über Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs gelungen. Als Wladimir Putin Ende Februar dieses Jahres seine Truppen zu einer Großoffensive gegen die Ukraine in Marsch setzte, hatten die Autorinnen die Arbeit an ihrem Manuskript fast abgeschlossen; nun zeigte sich, wie bedrückend relevant diese Arbeit ist. Der russische Machthaber begründete seinen Überfall unter anderem mit der angeblichen Notwendigkeit, das "Kiewer Regime" müsse "entnazifiziert" werden, womit er eine Extremform der Instrumentalisierung historischer Erinnerung praktizierte, auf die auch Davies und Makhotina eingehen. Obwohl Putin mit dem Bezug auf den sowjetischen Abwehrkampf gegen das nationalsozialistische Deutschland in erster Linie das heimische Publikum auf den Eroberungs- und Unterwerfungskrieg gegen das Nachbarland einschwören wollte, zeigt der deutsche Ukraine-Diskurs, wie anfällig auch hierzulande viele Menschen für derlei Narrative sind. Das Wissen über die Länder Ostmittel- und Osteuropas ist spärlich, das über die Geschichte dieser Länder und insbesondere über die dort von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen noch geringer, und so dominieren häufig zu Klischees geronnene Talking points die hiesige Debatte.
Mit ihrem für ein breiteres Publikum geschriebenen Buch füllen Davies und Makhotina daher eine wichtige Lücke. In erstaunlicher Weise gelingt es ihnen, ihre Expertise auf für Leserinnen und Leser außerhalb des Fachs in gut lesbarer Weise aufzubereiten und dabei gewissermaßen die Quadratur des Kreises zu meistern: Neben einem Überblick über die deutschen Verbrechen in den besetzten Ländern und dem "Ineinandergreifen von Holocaust und Vernichtungskrieg im östlichen Europa" (262) schildern sie auch berührende Einzelschicksale und gehen sowohl auf die juristische Aufarbeitung wie die erinnerungspolitischen Debatten in den betreffenden Staaten und in Deutschland ein.
Dies gelingt ihnen, indem sie sich in den neun Hauptkapiteln jeweils auf konkrete Orte konzentrieren, die sie einzeln oder gemeinsam besucht, zu denen sie teilweise selbst geforscht haben und von denen ausgehend sie dann weiterführende Fragen behandeln. So wird etwa im Kapitel über die zwei Aufstände von Warschau (den im Getto von 1943 und den der Heimatarmee von 1944) auf die zweifache Besetzung Polens - durch deutsche und durch sowjetische Besatzer - eingegangen. Das Kapitel über Lwiw behandelt neben der Ermordung der jüdischen Bevölkerung auch den polnisch-ukrainischen "Krieg im Krieg" und die 1943 einsetzenden "ethnischen Säuberungen". Und im Kapitel über das Massaker von Babyn Jar in Kiew erfahren wir von der problematischen Würdigung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die staatlicherseits als "Kämpfer für die Unabhängigkeit" erinnert werden sollen, während ihre zeitweilige Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern heruntergespielt wird.
Eindrücklich zeigen die Autorinnen auf, wie das Leiden der Menschen im belagerten Leningrad und im umkämpften Stalingrad, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, nicht nur in der deutschen Erinnerungslandschaft unterbelichtet blieb, sondern auch im offiziellen sowjetischen Diskurs, der den Heroismus des Abwehrkampfes hervorhob. Umso wertvoller sind Einblicke in die aktuelle Forschung etwa zu den traumatischen Erinnerungen der Leningrader Blockadekinder über den Verlust von Verwandten oder die Angst vor Kannibalismus. Ein wichtiges Element des Buches sind daher neben den Schilderungen der jeweils besuchten Orte auch die ihrer Begegnungen mit Forscherinnen und Forschern und Überlebenden - wie der Holocaustüberlebenden Fania Brancovski, die sie 2016 im Wilna trafen. Brancovski hatte sich 1942 der jüdischen Widerstandsorganisation im Getto angeschlossen, war mit ihrer Gruppe später zu den sowjetischen Partisanen in die nahegelegenen Rudninku-Wälder geflohen und hatte in deren Reihen die Befreiung der Stadt durch die Rote Armee unterstützt. 2008 ermittelte deshalb die litauische Generalstaatsanwaltschaft gegen sie, während die Mittäterschaft weiter Teile der litauischen Bevölkerung am Judenmord bis heute hinter das Narrativ zurücktritt, das Litauen fast ausschließlich als Opfer zweier totalitärer Regime darstellt.
Es macht die besondere Qualität dieses Buches aus, dass es Davies und Makhotina gelingt, über Fragen von menschlichem Leid, Kollaboration und Gedenken in einer Weise zu schreiben, die deren Komplexität nicht reduziert, sondern erklärt. So verdeutlichen sie nicht nur die grausamen Zwänge, mit denen sich die Zeitgenossen konfrontiert sahen - etwa die sowjetischen Kriegsgefangenen, die sich im Lager Trawniki zu KZ-Aufsehern ausbilden ließen, um dem drohenden Hungertod in Gefangenschaft zu entgehen, oder die jüdischen Leichenbrenner, die darunter litten, den Deutschen bei der Beseitigung der Spuren ihrer Massenverbrechen zu helfen, in der Hoffnung, das eigene Leben noch etwas zu verlängern. Die Autorinnen führen auch vor Augen, wie das Gedenken an die Verbrechen der deutschen Besatzer und ihrer einheimischen Helfer sowie an deren Opfer bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder politisch überformt wird. Das zeigt insbesondere der Vergleich der drei "Feuerdörfer" Chatyn in Belarus, Korjukiwka in der Ukraine und Priçiupius in Litauen (195), die von deutschen Einheiten während des Antipartisanenkampfes ausgelöscht wurden. Während Chatyn zum Symbol für die "Partisanenrepublik" Belarus wurde, deren sowjetische "glatte Erzählung" vom Heldenmut gegen die deutschen Besatzer durch den Diktator Lukaschenko im Kampf gegen die Opposition reaktiviert wurde (203), ist die Erinnerung an den Mord an den Einwohnern von Priçiupius inzwischen zu einer Leerstelle geworden: Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Frage aufgeworfen, ob die "Strafaktion" (210) der SS nicht durch erst durch Aktivitäten sowjetischer Partisanen ausgelöst worden sei. Die 1958 initiierte Gedenkstätte vor Ort erhielt von der litauischen Regierung kaum noch Geld, wurde 2000 schließlich geschlossen und ihre Bestände 2010 schließlich in ein Depot des Nationalmuseums überführt.
Mit Hilfe dichter Beschreibungen solcher Erinnerungsorte verdeutlichen Davies und Makhotina, wie Geschichtspolitik bis in die Gegenwart hinein zu einem Teil der Nationsbildung wird, bei der es immer wieder auch um die Frage geht, wer Opfer und wer Täter war. In Europa gebe es bis heute keine gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, stehe das "Europa des Gulag" dem "Europa des Holocaust" gegenüber (28), schreiben die Autorinnen; ihre Auswahl an Erinnerungsorten sei als "Anregung" an die Leserinnen und Leser zu verstehen, sich mit weiteren Orten und deren komplexen Geschichte zu beschäftigen. Das ist sehr bescheiden formuliert - ein besserer Einstieg in die Thematik lässt sich derzeit nicht empfehlen.
Bert Hoppe