Rezension über:

Simon Donig: Adel ohne Land - Land ohne Adel? Lebenswelt, Gedächtnis und materielle Kultur des schlesischen Adels nach 1945, Berlin: de Gruyter 2019, 597 S., ISBN 978-3-11-034373-1, EUR 49,95
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Rezension von:
Kornelia Kończal
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Kornelia Kończal: Rezension von: Simon Donig: Adel ohne Land - Land ohne Adel? Lebenswelt, Gedächtnis und materielle Kultur des schlesischen Adels nach 1945, Berlin: de Gruyter 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/37594.html


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Simon Donig: Adel ohne Land - Land ohne Adel?

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Für die Bewohner vieler Regionen Ostmitteleuropas brachten Zwangsmigrationen und Grenzverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg einen tiefen Einschnitt mit sich. Am Beispiel von Schlesien untersucht Simon Donig die Folgen dieser Zäsur für die Adelslandschaft und füllt somit eine erhebliche Forschungslücke. Sein Erkenntnisinteresse ist von zwei zentralen Fragen geleitet, die den Aufbau der umfangreichen Studie bestimmen. Im ersten Teil analysiert er, wie Menschen aus adeligen schlesischen Familien, die seit 1945 in Westdeutschland leben, ihre Herkunft erinnern und das verlorene Land wahrnehmen. Im zweiten Teil untersucht er, was mit der materiellen Adelskultur im nun polnischen Schlesien passiert ist. Im abschließenden Teil fragt der Autor nach den Chancen einer gemeinsamen deutsch-polnischen Meistererzählung über die schlesische Adelslandschaft.

Um diese komplexen Themen zu bearbeiten, hat Donig eine beeindruckende Menge und Vielfalt von Quellen ausgewertet. Seiner Studie liegen zum einen 36 Interviews mit Angehörigen von drei Kohorten des schlesischen Adels zugrunde: den Vorkriegssozialisierten, der Generation 1.5, "die zum Teil noch sehr bewusst adeliges Leben und praktizierte adelige Kultur in Schlesien erlebt haben" (500), und den Nachkriegssozialisierten, das heißt insgesamt über 90 Stunden Interviewmaterial, das zwischen 2010 und 2013 gesammelt wurde. Zum anderen stützt sich die Arbeit auf Quellen aus vielen polnischen Archiven und dem Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth, ergänzt um einen umfangreichen Korpus veröffentlichter Archivalien und Privatschriften, Zeitungen und Zeitschriften sowie auch zahlreicher Postkarten und Fotografien. Das Ergebnis dieses ambitionierten Unterfangens sind spannende Einblicke in die Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte des schlesischen Adels und in das Nachleben seiner materiellen Kultur.

Wie Donig im ersten Teil seiner Studie zeigt, konnte kaum eine schlesische Adelsfamilie nach 1945 an das Leben davor anknüpfen: Trotz beachtlicher Lastenausgleichszahlungen ging die Zwangsmigration mit einer radikalen materiellen Deprivation und sozialer Restratifizierung einher. Die Reproduktion der adeligen Lebenswelt - zumal in einer "entadelten Gesellschaft" (Eckart Conze) - war somit kaum möglich. Adelige Familien unterschieden sich vom Rest der (west)deutschen Nachkriegsgesellschaft jedoch nicht nur durch bestimmte habituelle Merkmale. Ein weiteres wichtiges Distinktionsmerkmal war (und bleibt) die Rolle des kollektiven Gedächtnisses im Prozess der familiären Identitätsbildung. Im Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft investier(t)en Angehörige adeliger Familien viel Zeit und Energie in die Pflege der Familiengeschichte - hier: in Verbundenheit mit dem in Schlesien verloren gegangenen Eigentum. Interessanterweise decken sich aber adelige Erfahrungsgemeinschaften nur teilweise mit den Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften. Die von Donig durchgeführten Interviews zeugen von einem vielfältigen Verständnis davon, welche Bedeutung die adelige und schlesische Abstammung im frühen 21. Jahrhundert haben und wie unterschiedlich sie sich sowohl auf der Projektions- als auch auf der Handlungsebene manifestieren kann.

Im zweiten Teil der Studie argumentiert Donig gegen eine Geschichte der schlesischen Schlösser und Herrenhäuser, die von der Verfallsperspektive bestimmt ist. Dies bedeutet nicht, die ideologisch motivierte Entgermanisierung und Polonisierung von Kulturgütern in den einst deutschen Gebieten Polens in der frühen Nachkriegszeit zu leugnen oder die Konsequenzen des vorwärts gerichteten technischen Paradigmas, das in den späteren Jahrzehnten vorherrschte und sich auf die Verwertbarkeit von Kulturgütern konzentrierte, zu bagatellisieren. Indem der Verfasser die bürokratische Praxis des Denkmal- und Kulturgüterschutzes auf lokaler und regionaler Ebene sowie die zwangsläufig weniger gut dokumentierten Handlungen der Zivilgesellschaft analysiert, kann er jedoch zeigen, wieviel davon abhing, welche Akteure und somit Interessen sich vor Ort trafen, dass nicht alle Rettungsbemühungen wirkungslos blieben und wie stark sich die gesellschaftliche Einstellung zum einst deutschen Eigentum in Schlesien im Laufe der Zeit veränderte. Besonders interessant sind dabei Passagen, die sich auf mutige Initiativen polnischer Kunsthistoriker nach 1956 sowie auf Veralltäglichungsprozesse im Umgang mit dem adeligen Eigentum in Schlesien in den 1980er Jahren beziehen.

Der die beiden Teile der Studie verbindende und übergreifende Befund wird bereits in ihrem Titel mithilfe des Fragezeichens angedeutet: Die Trennung zwischen einem "Adel ohne Land" und einem "Land ohne Adel" habe es - so Donig - trotz räumlicher, kultureller und politischer Trennung nie gegeben. Anhand zahlreicher Beispiele kann er zeigen, wie vielfältig gegenseitige Verflechtungen von Sinnstiftungsprozessen bereits vor 1989 waren. Während für die in Westdeutschland lebenden adeligen Familien ihre in Schlesien zurückgelassenen Häuser zentrale Bezugspunkte der familiären Sinnstiftung darstellten, blieb der schlesische Adel in der Volksrepublik Polen durch die verschiedenen Versuche, seine Abwesenheit zu dokumentieren, diskursiv stets präsent. Im abschließenden Teil führt Donig weitere Beispiele an, um seine These zu belegen, indem er unter allen die Entdämonisierung und die Renaissance des Adels in Polen diskutiert.

Das einzige Manko dieser quellengesättigten und gedankenreichen Publikation ist ein gewisses Ungleichgewicht in ihrem Forschungsdesign: Die starke Verankerung der Arbeit in der Adelsgeschichte (16-25) kontrastiert mit ihrer relativ schwachen Verankerung in der Geschichte der materiellen und der Erinnerungskultur (40-42). Die Heranziehung neuer Ansätze in der Erinnerungsforschung wie memory activism beziehungsweise heritage activism oder eine intensivere Beschäftigung mit der umfangreichen Literatur zu material culture hätte der analytischen Tiefenschärfe des zweiten Teils der Arbeit gutgetan. Dieser Kritikpunkt kann allerdings die Gesamtbewertung der Studie nicht ändern: Donig hat eine gründlich recherchierte, intellektuell anregende und in einem eleganten Stil geschriebene Monografie vorgelegt. Hoffentlich kann sie bald - zumindest in Auszügen - in polnischer Übersetzung erscheinen.

Kornelia Kończal