Rezension über:

Sarah Graber Majchrzak : Arbeit - Produktion - Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG "Weser" in Bremen im Vergleich (1968–1983) (= Zeithistorische Studien; Bd. 62), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 563 S., ISBN 978-3-412-51917-9, EUR 65,00
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Rezension von:
Katharina Bothe
Deutsches Schifffahrtsmuseum/Leibniz-Institut für Maritime Geschichte, Bremerhaven
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Bothe: Rezension von: Sarah Graber Majchrzak : Arbeit - Produktion - Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG "Weser" in Bremen im Vergleich (1968–1983), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/37595.html


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Sarah Graber Majchrzak : Arbeit - Produktion - Protest

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Die Monografie, die aus einer 2019 an der Universität Potsdam verteidigten Dissertation hervorgegangen ist, beschäftigt sich mit der polnischen und deutschen Schiffbauindustrie während des industriellen Strukturwandels in den 1970er Jahren. Mithilfe eines Ost-West-Vergleichs stellt Sarah Graber Majchrzak die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von betrieblichen Wandlungsprozessen und technischen Innovationen als Reaktionen auf die wirtschaftliche Krise und die wachsende globale Konkurrenz heraus. Die Fragestellung widmet sich der veränderten Produktionsregime und Arbeitskonflikte beiderseits des "Eisernen Vorhangs" (15) anhand zweier Falluntersuchungen: der Werft AG "Weser" in Bremen und der Leninwerft in Danzig (Gdańsk). In den Blick rücken sowohl die Rationalisierungsmaßnahmen der Unternehmensleitung als auch deren Auswirkung auf die Arbeitsorganisation, die Arbeitsprozesse und den Arbeitsalltag der Werftbelegschaft.

Die umfassende Abhandlung ist in zehn Kapitel gegliedert. Die einleitenden Kapitel vergleichen den industriellen und betrieblichen Wandel des jeweils kapitalistisch und sozialistisch geprägten Schiffbaus ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darauf folgt eine facettenreiche Erarbeitung der Produktionsprogramme in den Werftbetrieben: der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus (Kapitel 3), der daraus resultierende Wandel in den Belegschaftsstrukturen (Kapitel 4), die veränderte Arbeitszeitökonomie und Entlohnungspolitik und die Unterschiede im Akkord- und Programmlohnsystem (Kapitels 5 und 6) sowie die Arbeitsbelastung im Kontext der "Humanisierung der Arbeit" (Kapitel 7). Die letzten drei Kapitel behandeln zentrale Arbeitskonflikte und die Rolle der Gewerkschaften (Kapitels 8 und 9) sowie abschließend in Form einer transnationalen Verflechtungsgeschichte die sich abzeichnenden Verbindungslinien von Protesten auf der AG "Weser" und der Leninwerft in den 1980er Jahren (Kapitel 10).

Die Analyse basiert auf der Methode des Vergleichs, der wiederum auf einer Tiefenanalyse der Produktionsregime auf Betriebsebene fußt. Unter dem Begriff "Produktionsregime" fasst Graber Majchrzak die Arbeitsprozesse und Arbeitsbeziehungen, anhand derer sich sowohl die produktionstechnischen Veränderungen als auch die sozialen (Macht-)Beziehungen systemneutral untersuchen lassen (21). Den Mehrwert dieses methodischen Ansatzes bildet vor allem die transnationale Ausrichtung. Anhand der Werftbetriebe lassen sich nicht nur Unterschiede und Ähnlichkeiten von wirtschaftlichen Krisenfolgen zwischen politischen Systemen nachzeichnen, sondern auch die sich in Zeiten des Kalten Krieges intensivierenden transnationalen Verflechtungen zwischen Ost und West exemplarisch untersuchen. Die Leninwerft nahm "eine Vorreiterrolle in den Handelsbeziehungen zu den westlichen Ländern ein und zeugte ab den 1970er Jahren von den Verschränkungen und Schwierigkeiten eines staatssozialistischen Betriebs mit dem Weltmarkt" (95).

Die Ergebnisse zur Leninwerft sind erkenntnisreich und entfalten durch den Vergleich zur AG "Weser" ihr innovatives Potential. Es wird aufgezeigt, inwiefern die Produktionsregime vor dem Hintergrund einer "fordistischen Fortschrittsvorstellung" (205) gegenläufig verliefen. Die AG "Weser" war zunächst handwerklich geprägt und setzte ab den 1960er Jahren auf den seriellen Großschiffbau nach japanischem Vorbild. Damit konnte sie der asiatischen Konkurrenz nicht standhalten, 1983 erfolgte ihre Schließung. Das Produktionsregime der Leninwerft hingegen sei bereits in den 1950er Jahren mit dem Bau einfacher Schiffe in Serie von einer tayloristisch-fordistischen Arbeitsorganisation gekennzeichnet gewesen. In den 1960er Jahren leitete das Werftmanagement ein Diversifizierungsprogramm ein, das den Bau von spezifischen Schiffen vorsah. Diese Strategie widersprach "gänzlich den Vorstellungen des staatssozialistischen Plansystems" (512). Diese von der Verfasserin präsentierten Zusammenhänge sind wichtig, weil der deutlich komplexere Spezialschiffbau bislang als westeuropäische Antwort auf die Werftenkrise und als Symbol deutscher Hochtechnologie mit Werften wie den Howaldtswerken-Deutsche Werft (HDW) oder Blohm+Voss, weniger aber mit Werften im östlichen Europa in Verbindung gebracht wurde. Letztere seien an der "Krise der Moderne" gescheitert. Das vorliegende Werk hingegen erklärt die Hintergründe, warum die polnische Leninwerft bis in die 2000er Jahre hinein konkurrenzfähig war.

Andere Studien haben bereits belegt, dass es während der Werftenkrise zu prekären und unsicheren Arbeitsverhältnissen im globalen und nationalen Schiffbau kam. [1] Graber Majchrzak zeichnet ein differenzierteres Bild: Auf den polnischen Werften waren die Beschäftigungsverhältnisse stabiler und Personal wurde kontinuierlich eingestellt. Während sich die Werftarbeiter in Polen aufgrund des in der Verfassung verankerten Rechts auf Arbeit bis 1989 ihres Arbeitsplatzes sicher gewesen seien, hätten die deutschen Arbeiter kontinuierlich Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt. Um der Krise zu begegnen, so die Verfasserin, verringerte die AG "Weser" konstant ihre Stammbelegschaft, verstärkte den Einsatz von Leiharbeitern und erhöhte den Kontrolldruck auf die Beschäftigten. Entgegen tradierten Vorstellungen zeigt das Werk, dass die "betriebliche Disziplinierung der Werktätigen in einer 'freiheitlich-kapitalistischen' Gesellschaft in der Bundesrepublik in der Krise stärker ausfiel als in der 'autoritär-sozialistischen' Gesellschaft in der VR Polen" (516).

Während der Schiffbaukrise kam es in beiden Werften auch zu einer "Krise der Repräsentation der Lohnabhängigen" (463). Die Beschäftigten initiierten in ähnlicher Form unabhängig von der Gewerkschaft Widerstände und Protestaktionen. Insgesamt fällt auf, dass die Verfasserin die Arbeiter als ein homogenes Kollektiv betrachtet. Für die in der Einleitung anvisierte Darstellung des betrieblichen Alltags "von unten" und der veränderten Arbeits- und Machtbeziehungen hätten jedoch Perspektiven von unterschiedlichen Arbeiter- und Interessengruppen aus Polen und Deutschland die bereits sehr differenzierten Erkenntnisse zusätzlich bereichern können.

Graber Majchrzak hat ein sehr gehaltvolles und vielschichtiges Buch geschrieben. Es liefert einen bedeutenden und neuen Beitrag zur Industrie- und Arbeitergeschichte in West- und Osteuropa im 20. Jahrhundert, indem es die Zusammenhänge zwischen der fortschreitenden Globalisierung, der Krise und den jeweiligen Auswirkungen auf den betrieblichen Arbeitsalltag in einem marktwirtschaftlichen und einem planwirtschaftlichen Land aufzeigt. Diesen Wechselwirkungen hat sich die Forschung bislang kaum gewidmet, und in den wenigen Studien dominiert ein Fokus auf Westeuropa und die Folgen der Krise für kapitalistische Wirtschaftsnationen. Der im Buch verfolgte Ansatz des transnationalen Vergleichs ist sehr gewinnbringend. Dem selbst gesetzten Anspruch, am Exempel der Schiffbauunternehmen Ideologien, Dualismen und Stereotype des vermeintlich rückständigen Ostens gegenüber einem als modern geltenden Westen zu entkräften, wird das Werk mehr als gerecht.


Anmerkung:

[1] Raquel Varela / Hugh Murphy u.a. (eds.): Shipbuilding and Ship Repair Workers around the World. Case Studies 1950-2010, Amsterdam 2017.

Katharina Bothe