Rezension über:

Patrick Breternitz: Königtum und Recht nach dem Dynastiewechsel. Das Königskapitular Pippins des Jüngeren (= Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter; Bd. 12), Ostfildern: Thorbecke 2020, 259 S., 3 Abb., ISBN 978-3-7995-6092-4, EUR 35,00
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Rezension von:
Hendrik Hess
Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Hendrik Hess: Rezension von: Patrick Breternitz: Königtum und Recht nach dem Dynastiewechsel. Das Königskapitular Pippins des Jüngeren, Ostfildern: Thorbecke 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/36979.html


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Patrick Breternitz: Königtum und Recht nach dem Dynastiewechsel

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Patrick Breternitz befasst sich in seiner bei Karl Ubl in Köln eingereichten und in der Reihe "Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter" veröffentlichten Dissertationsschrift mit dem Königskapitular Pippins des Jüngeren. Unter dem Titel "Königtum und Recht nach dem Dynastiewechsel" unterzieht er den kurzen, in der MGH-Edition knapp eine Seite umfassenden Rechtstext einer intensiven Analyse.

Das Kapitular - vermutlich entstanden 754/55 - wurde in einer Phase promulgiert, in der Pippins Herrschaft nach dem Dynastiewechsel von 751 noch nicht vollständig gesichert schien. Pippin hatte Probleme, die fränkischen Großen von einem Feldzug gegen die Langobarden zu überzeugen; erst mit Hilfe Papst Stephans II., der eigens ins Frankenreich kam, gelang es ihm, die nötige Unterstützung zu erlangen. Zudem war sein Bruder und Konkurrent Karlmann ins Frankenreich zurückgekehrt, wohl um seinen Sohn Drogo zu unterstützen, was Pippins Stellung bedrohte. Damit sei seine Aktivität in der Rechtspflege und -setzung vor allem als Versuch der Profilierung und Absicherung der königlichen Führungsposition zu bewerten. Allgemein gesprochen geht es in der Folge also vor allem um "das Verhältnis von Königskapitular und Königtum" (23), dem sich Breternitz über die Arbeitsschritte "Textverständnis, Kontextualisierung im Diskurs und historische Einordnung" (24) annähert, wie er in seiner Einleitung (1.) darlegt. Als Teil eines kurzen Forschungsüberblicks werden eine Reihe von Problemstellungen und Aporien der rechtshistorischen Forschung des Frühmittelalters benannt, die Breternitz prägnant zusammenfasst, wie etwa die Frage nach dem Rechtsbegriff und -verständnis der Zeitgenossen, schriftlicher und mündlicher Rechtskultur, der möglichen Divergenz von Verkehrs-, Mutter- und Rechtssprache und dem (konsensualen) Zustandekommen solcher Rechtstexte. Außerdem diskutiert er hier die handschriftliche Überlieferung des Königskapitulars und seine Datierung.

Die Gliederung des Hauptteils folgt den Abschnitten der Quelle, deren erste drei Kapitel sich mit "Inzest und Ehe" (2.), das vierte mit "Zöllen" (3.), das fünfte mit "Münzen" (4.) und die letzten beiden mit der "Rechtspflege" (5.) befassen. Bei der Analyse der ersten drei Kapitel des Königskapitulars werden auch die handschriftliche Überlieferung einer neuen Prüfung unterzogen und die fränkische Inzestbekämpfung im gesamten achten Jahrhundert reflektiert. Pippin habe vor allem "den engen Schulterschluss mit seinem neuen Verbündeten Papst Stephan II. zeigen" (63) wollen, indem er eher den päpstlichen Ansichten als denen des Bonifatius folgte. Gleichzeitig sei es Pippin so gelungen, seine Unabhängigkeit und sein gestalterisches Selbstbewusstsein gegenüber der angelsächsischen Mission wirkungsvoll zu demonstrieren. Die tatsächliche Wirksamkeit der Verordnungen zur Inzestbekämpfung selbst wiederum lasse sich jedoch nicht ermitteln.

Im nächsten Kapitel bildet dann eine eingehende Untersuchung der urkundlichen Überlieferung zu Zollangelegenheiten im achten Jahrhundert die Bewertungsgrundlage für die Verordnungen des Königskapitulars in diesem Bereich. Vor allem für Pilger setzte sich Pippin ein und habe sich dadurch "als guter König" (96) inszenieren wollen.

Ausführlich befasst sich Breternitz auch mit den Bestimmungen zum Münzwesen und kann sich dabei zum Teil auf eigene Vorarbeiten stützen. Pippin habe sich mit seiner Münzreform erfolgreich von seinen merowingischen Vorgängern absetzen können. Vor allem, dass sein Name und Königstitel auf den Münzen erschienen, sei ihm dabei offenbar wichtig gewesen, was mit Helmut Reimitz [1] als Versuch eingeordnet wird, "über das Frankentum eine neue Gruppenidentität zu schaffen, die letztlich der Stabilisierung des Dynastiewechsels dienen sollte" (139). Bei der Gestaltung der Münzen habe sich Pippin am langobardischen Vorbild König Aistulfs bedient; er selbst wiederum habe als Exempel der angelsächsischen Münzprägung gedient, wie Breternitz in zwei Unterkapiteln darlegen kann.

Das Königskapitular endet mit Verordnungen zur Rechtspflege, deren Untersuchung den Hauptteil abschließen. Wie auch schon zuvor spielt dabei die Rezeption des Kapitulars auf dem Konzil von Ver eine große Rolle bei der rechtsgeschichtlichen Einordnung, denn ganz eindeutig scheinen die Formulierungen der Quelle zum Umgang mit geistlichen Immunitäten, Fehlurteilen oder dem Nichtzustandekommen von Rechtssprüchen nicht. Auch im Vergleich mit der Lex Salica werde deutlich, dass man im Fall des Frankenreichs eher nicht von einem geschlossenen Rechtsraum, sondern vielmehr von parallelen und sich überlappenden Rechtslandschaften auszugehen habe, was sich teilweise auch in mehrdeutiger Rechtsterminologie niederschlägt. Pippin habe die Verleihung von Immunitäten auch als machtpolitisches Mittel eingesetzt, um den Einfluss weltlicher Großer einzuschränken. Durch die gezielte Stärkung der lokalen Gerichtsbarkeit habe sich der König zudem als tugendhafter, der iustitia verpflichteter Herrscher gerieren wollen. Grundsätzlich belasse es Pippin hier nicht bei einem Rückgriff auf die Regelungen der Lex Salica zum Zweck der Identitätsstiftung (Reimitz), sondern gehe in seinem Gestaltungswillen und dem Versuch zur Behebung von Missständen sogar deutlich über den älteren Rechtstext hinaus.

In seinem Fazit betont Breternitz nochmals Pippins in der Studie überzeugend nachgewiesene aktive und konstruktive Rolle in der Rechtsgestaltung, die er im Königskapitular realisiert sieht. Sie diente dem König in erster Linie zur Demonstration von Herrschertugenden zur Stärkung seiner Stellung in einer kritischen Phase seiner Herrschaft. Er orientierte sich dabei weniger an den Verordnungen seiner merowingischen Vorgänger als vielmehr beim langobardischen Recht. Freilich lässt sich der exakte Einfluss des Königs auf das Kapitular nicht vollständig ermessen, wie Breternitz einräumt. Der Text war, was die Ausgestaltung seines konkreten Inhalts angeht, sicherlich ein Konsensprodukt, bei dem auch die Großen des Reiches mitwirkten. Allerdings war es Pippin, auf dessen Initiative hin und unter dessen Anleitung der Konsens zustande kam und unter dessen Namen die Beschlüsse verkündet wurden, wodurch er zweifellos "allen seinen königlichen Führungsanspruch vor Augen führ[te]" (217).

Insgesamt liefert Breternitz eine sehr dichte Analyse des Königskapitulars. Umsichtig bezieht er dabei auch die synchrone und diachrone Rechtsüberlieferung im langobardischen und angelsächsischen Raum bzw. die Gesetzgebung der Merowinger und Karls des Großen ein. Die Untersuchung besticht durch eine klare und präzise Sprache, die allerdings hin und wieder Wortwiederholungen zur Folge hat, die den Lesefluss jedoch kaum stören. Misslich sind gelegentliche Fehler im Satz, die dazu führen, dass Fußnoten auf der nächsten Seite platziert werden (z.B. 14, 60, 71).

Die Herrschertugenden (iustita, clementia, etc.), deren Demonstration Breternitz häufig als Motivation für Pippins Rechtsreform namhaft macht, hätten bezüglich ihres Stellenwerts für das Königtum vielleicht noch etwas stärker in ihren frühmittelalterlichen Ausprägungen im Rahmen der Studie eingeordnet werden können. Auch scheint noch mehr heuristisches Potential im Konzept der "Rechtslandschaften" zu liegen, das zwar in der Einleitung im Zusammenhang mit der vorsichtigen Zurückweisung des auf Caspar Ehlers zurückgehenden "Rechtsraums" [2] andiskutiert wird (15), im weiteren Verlauf aber - wenn auch hier und da aufgegriffen - nicht näher bestimmt oder definiert wird. [3] Dennoch bleibt festzuhalten, dass Breternitz' Vorgehen im engen Rahmen eines kurzen Textes vorbildlich ist, neue Erkenntnisse hervorbringt und einen auch für zukünftige rechtsgeschichtliche Forschungen fruchtbaren Analyseweg in der quellenarmen Zeit des Frühmittelalters aufzeigt.


Anmerkungen:

[1] Helmut Reimitz: History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550-850 (= Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 101), Cambridge 2015.

[2] Caspar Ehlers: Rechtsräume. Ordnungsmuster im Europa des frühen Mittelalters (= Methodica 3), Berlin / Boston 2016.

[3] Siehe hingegen jedoch jüngst etwa Dennis Majewski: Zisterziensische Rechtslandschaften. Die Klöster Dobrilugk und Haina in Raum und Zeit (= Rechtsräume 2), Frankfurt am Main 2019, 60-75.

Hendrik Hess