Rezension über:

Anne Lemonde: Les comptes et les choses. Discours et pratiques comptables du XIIIe au XVe siècle en Occident (principautés, monarchies et mondes urbains) (= Histoire), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2022, 344 S., 36 Abb., ISBN 978-2-7535-8628-4, EUR 28,00
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Rezension von:
Tanja Skambraks
Historisches Institut, Universität Mannheim
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Tanja Skambraks: Rezension von: Anne Lemonde: Les comptes et les choses. Discours et pratiques comptables du XIIIe au XVe siècle en Occident (principautés, monarchies et mondes urbains), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/37186.html


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Anne Lemonde: Les comptes et les choses

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Die Geschichte von Rechnungen und Abrechnungspraktiken im Mittelalter ist in den letzten zehn Jahren scheinbar zum Stillstand gekommen. Größere Forschungsprojekte und einschlägige Publikationen zu dieser elementaren Technik der Wissensspeicherung und Administration sucht man vergeblich. Auch übergreifende Datenbanken sind teils nicht mehr zugänglich. Dabei sind Abrechnungen als Quellen des Spätmittelalters doch in teils großer Zahl und häufig seriell überliefert und bieten vielfältige Möglichkeiten quantitativer Auswertung durch Wirtschaftshistoriker:innen. Darüber hinaus - und dies zeigt der hier besprochene Sammelband mit dem Titel Les comptes et les choses auf eindrückliche Weise - sind Rechnungen als narrative Quellen analysierbar, die den auf einer "Mathematisierung der Realität" gründenden Institutionalisierungsprozess von Verwaltungseinheiten und letztlich die Herausbildung basaler Strukturen moderner Staaten erzählend und diskursiv sichtbar machen.

Die zwölf Fallstudien des von Anne Lemonde herausgegeben Bandes umfassen vor allem den Mittelmeerraum im 14. Jahrhundert, ergänzt durch einen Beitrag zu Flandern (Santamaria) und zwei Aufsätze zum deutschsprachigen Raum (Buchholzer). Methodologisch anspruchsvoll fordert die Herausgeberin in der Einleitung für das Forschungsfeld Abrechnungsforschung nach dem linguistic turn einen accountic turn und zugleich eine größere Systematik bei der Auswertung dieser Quellen und ihres "revolutionären" historischen Wandels. Basierend auf von ihr bearbeiteten Quellen schlägt sie ein Stufenmodell zur Entwicklung von Abrechnungssprache vor, das die zunehmende Komplexität vom 13. bis ins späte 14. Jahrhundert analytisch greifbarer machen und in eine Typologisierung der Quellen münden soll. Die Basis der lexikalischen Analyse bietet eine Datenbank (GEMMA, http://ressourcescomptables.huma-num.fr), die hunderte Quellentexte aus dem französischen Raum (Grafschaften Venaissin, Provence, Dauphiné, und Rechnungen der avignonesischen Päpste) umfasst.

Allen Autor:innen des Bandes geht es um die Erforschung der Evolution der Abrechnungssprache (und der damit verbundenen Praxis), die im 14. Jahrhundert einen Höhepunkt an Komplexität und Ausführlichkeit erreichte. Dazu zählen Elemente einer "Abrechnungskette" (chaîne d'écriture), wie Marginalien und Kommentare, die nicht nur den administrativen Aufwand des Rechnungsaktes verdeutlichen, sondern auch die Beteiligung einer großen Zahl an Verwaltungsexperten (meist Notare) und das Bemühen um eine makellose Rechtfertigung der Amtsträger aufzeigen. Dies war nicht nur der Fall am Hof des aragonesischen (Beauchamp) und französischen Königs (Lemonde) oder der Kurie im 14. Jahrhundert (Jamme), sondern trifft ebenso auf die Verwaltung anderer Herrschaftsbereiche, wie die Grafschaften Languedoc (Sassu-Normand), Aix-en-Provence (Venturini) und das Bistum von Die (Verdier) zu.

Eine weitere Fragestellung des Bandes ist die nach dem Rechenschaftscharakter und der Ethik (Verantwortung) der Verwaltungsbeamten, die anhand der Rechnungsquellen sichtbar wird. Damit sind die juristische und politische Dimension der Abrechnungspraxis angesprochen, die besonders in den Beiträgen von Jean-Baptiste Santamaria, David Sassu-Normand und Alexandra Beauchamp diskutiert werden. Die persönliche Anwesenheit und das Eingreifen des Herrschers während der jährlichen rituell gerahmten Abrechnung stellt der Aufsatz von Paolo Buffo zu den Prinzen von Savoie-Achaïe im Piémont im 13. und 14. Jahrhundert auf eindrückliche Weise heraus. Dabei wurde die Verifikation von Besitzrechten und -pflichten häufig mit konkreten rituellen Einsetzungsakten, wie dem homagium kombiniert.

Eine Perspektivierung der deutschen Quellen nimmt Laurence Buchholzer in gleich zwei Aufsätzen vor und beklagt zu Recht die mangelnde Konvergenz deutscher und französischer Forschung zu den Rechnungen, ein Argument, das sich auf den gesamten europäischen Raum ausweiten ließe. In seinem ersten Beitrag bespricht er die Heterogenität und Fragmentiertheit deutscher Stadtrechnungen und verweist u.a. auf die bedeutende Rolle von Stadtbüchern als Träger von Rechnungen. Diesem Ansatz folgt er im zweiten Beitrag anhand der Städte Schaffhausen, Colmar, Augsburg, Nürnberg, Duisburg und Dortmund sowie der Abhandlung des Rechtsgelehrten Nikolaus Wurm (um 1400).

Die Auswertbarkeit mancher Rechnungen als narrative Quellen wird von Anne Lemonde in ihrem anthropologisch inspirierten Beitrag zu Gerichtsverfahren in der Dauphiné des 14. Jahrhunderts beindruckend aufgezeigt.

Insgesamt bietet der Sammelband Beiträge von teils hoher inhaltlicher Dichte, deren Heterogenität jedoch durch die konzise Zusammenfassung von Thierry Pécout abgefedert wird. Positiv hervorzuheben sind die teils abgedruckten Fotos der Rechnungsbücher sowie in einigen Fällen die Transkriptionen der analysierten Quellen.

Diesem anspruchsvollen Sammelband ist eine große Leserschaft zu wünschen und vor allem bleibt zu hoffen, dass er Anstoß für weitere international vergleichende Arbeiten zu diesem Thema geben kann.

Tanja Skambraks