Julia Bernstein: Israelbezogener Antisemitismus. Erkennen Handeln Vorbeugen, Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2021, 266 S., 56 Abb., ISBN 978-3-7799-6359-2 , EUR 29,95
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Julia Bernstein, Soziologin und Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Science, hat mit "Israelbezogener Antisemitismus - Erkennen - Handeln - Vorbeugen" ein Buch vorgelegt, das primär für die historisch-politische Bildungsarbeit verfasst wurde. Doch es eignet sich auch als solides und wissenschaftlich fundiertes Einführungswerk in den Themenkomplex derjenigen Formvariante des Antisemitismus, die sich gegen den Staat Israel richtet. Auch wenn diejenigen, die sich wissenschaftlich, politisch oder pädagogisch schon länger mit dem Thema beschäftigen, vermutlich wenig Neues erfahren werden, eignet sich das Buch als in weiten Teilen guter Überblick. Es kompiliert aktuelle Erkenntnisse der empirischen Meinungsforschung sowie der (historischen) Antisemitismusforschung und stellt im Anhang viele weiterführende Informationen und Querverweise bereit.
Das erste inhaltliche Kapitel des Buches "Israelbezogener Antisemitismus: Geschichte, Gegenwart, Kriterien" bietet einen Abriss des aktuellen Stands der (historischen) Antisemitismusforschung. Es erklärt Antisemitismus als "Weltanschauung und Gefühl", zeichnet die Genese des modernen Antisemitismus über die christlich-antijudaistische Tradition nach und mündet im israelbezogenen Antisemitismus, der den Schwerpunkt ausmacht. Dabei zeigt Bernstein die Funktionsweise des modernen Antisemitismus auf, der mit einer Erörterung unter anderem der zentralen Elemente "wahnhafte [...] Dämonisierung" (17), "Verschwörungsszenarien" (17) und "eliminatorischer Charakter" (19) insgesamt treffend auf den Punkt gebracht wird. Das Unterkapitel "Der israelbezogene Antisemitismus" legt überzeugend dar, dass dieser zwar eine neue Form des Antisemitismus darstellt, aber in einer inhaltlichen Kontinuität zu den seit Jahrhunderten bekannten antisemitischen und antijudaistischen Ideologemen steht.
Das nächste Kapitel, "Die Kontinuität des Antisemitismus", geht auf diese Verbindungen explizit in Bezug auf den sogenannten Post-Shoa-Antisemitismus ein, in dessen Kontext der israelbezogene Antisemitismus zu verorten sei. Die Autorin stellt ihn als Aspekt eines sekundären oder Schuldabwehrantisemitismus dar, der die "Dämonisierung und Delegitimierung Israels" im Kontext von Relativierung und Leugnung des Holocaust sowie des NS-Antisemitismus einordnet. Israelbezogener Antisemitismus finde in "Vernichtungsphantasien über Juden und Israel" seinen Ausdruck, "die aus der ideologischen und affektiven Struktur des Antisemitismus" folgen (49). Das Teilkapitel "Die Kontinuität antisemitischer Feindbilder: Bildvergleich" zeigt diese Traditionslinien eindrücklich auf: Mittels einer kontrastiven Gegenüberstellung von antisemitischen Motiven aus dem Nationalsozialismus mit antisemitischen Bildern des 21. Jahrhunderts aus dem Nahostkonflikt wird die Wirkmächtigkeit der Ideologiemomente über einen langen Zeitraum fast schon erschreckend deutlich illustriert.
Das folgende Kapitel widmet sich der "Verbreitung des israelbezogenen Antisemitismus" und damit der Frage, wo in der Gesellschaft israelbezogener Antisemitismus aufzufinden sei, also in welchen politischen Spektren ("Links, Rechts, Islamismus"), in welchen Einrichtungen (Schule) und wo er sich in den sozialen Medien beziehungsweise im Internet "gruppen- und milieuübergreifend" (83) manifestiere. Die Darstellungen sind konzise - für den Bereich "Medien" wäre eine etwas ausführlichere Darstellung in Bezug auf arabische/islamische Medien, die auch in Deutschland konsumiert werden, allerdings wünschenswert gewesen. Im entsprechenden Unterkapitel wird zwar dargestellt und aufgelistet, wie die deutsche Medienberichterstattung in Bezug auf den Nahostkonflikt immer wieder antisemitische Ideologeme transportiert. Über die israelbezogen-antisemitischen Inhalte, die von "arabischen, persischen, türkischen und palästinensischen oder von islamischen TV-Stationen" (95) auch in Deutschland verbreitet werden, erfährt man allerdings in einem kurzen Absatz mit drei Fußnoten nur wenig. Leider führt die Autorin nicht aus, wie und von wem sie rezipiert werden.
Das fünfte Kapitel, "Antisemitismus, Israel und der Nahostkonflikt", nimmt den in Bildungskontexten immer wieder zu beobachtenden Umstand zum Ausgangspunkt, dass auch unter Schülern und Schülerinnen israelbezogener Antisemitismus verbreitet ist und es im Bildungsbereich häufig zu Spannungen kommt. Da jüdische Schülerinnen und Schüler in Deutschland immer wieder als "vermeintliche Repräsentanten Israels angegriffen und angefeindet [werden]" (98), sobald der Nahostkonflikt erneut eskaliert, sieht Bernstein hier besonderen Aufklärungsbedarf.
Daher liefert sie einen recht knappen Abriss der Geschichte Israels sowie der Geschichte des Nahostkonflikts, darunter einen Überblick über aktuell relevante palästinensische Organisationen "zwischen Politik und Terror" (111) sowie über das palästinensische Volk und Staatsgebiet. Dem geplanten Umfang des Buches mag es geschuldet sein, dass die Geschichte des Nahostkonflikts nicht stärker ausformuliert wird. Insgesamt erscheint die Darstellung aber als zu oberflächlich, um ein umfassendes Bild zu liefern. Außerdem gibt das Kapitel 5.2.1. vor, einen historischen Überblick des Nahostkonflikts seit den antisemitischen Pogromen im Mandatsgebiet Palästina 1920 in Tabellenform darzustellen. So werden historisch gewichtige Prozesse wie die Suezkrise, der Sechstagekrieg, der Jom-Kippur-Krieg oder die erste und zweite Intifada mit jeweils weniger als 1.000 Zeichen bedacht. Die Geschichte Israels (Abb. 7, 101) beginnt im Jahr 1700 v.Chr. und endet im Jahr 1948 mit der Staatsgründung, alles auf einer Seite, mit teils eher vagen Einträgen wie "Assyrien (Nordreich) / 720 / Exil", "Kreuzfahrer / 1099" oder "1929 / Massaker an Juden von Hebron". Das ist für einen historischen Abriss etwas kurz - und gerade in Hinblick auf die Bildungsarbeit erscheint es fraglich, ob eine derartige Darstellung pädagogische Fachkräfte tatsächlich mit dem notwendigen historischen Wissen ausstattet, um israelbezogen antisemitischen Äußerungen zu begegnen.
Pädagogisch ergiebiger sind hier vermutlich die beiden letzten Kapitel 6 und 7, die "Handlungsempfehlungen" (149) und "Argumentationshilfen" (195) gegen israelbezogenen Antisemitismus liefern. Sie sind schwerpunktmäßig auf die pädagogische Alltagspraxis ausgelegt, die Leitfäden zur Widerlegung von "Feindbildern" und "Mythen" (169) beispielsweise zu falschen Behauptungen wie "Israel begehe einen Völkermord an den Palästinensern" (173), "Israel sei ein Kolonialstaat" (184) oder "Zionisten seien die 'neuen Nazis'" (185) sind jedoch sicherlich auch für ein breites interessiertes Publikum von Interesse und warten mit leicht verständlichen historischen Fakten auf.
Insgesamt ist Bernsteins Studie in mehrfacher Hinsicht ein pädagogisches Buch: Es richtet sich vom Standpunkt der historisch-politischen Bildungsarbeit an deren Akteure und Akteurinnen. Dem Gegenstand gemäß liefert es einen fundierten Überblick über den Stand der Forschung und ist daher allen zu empfehlen, die Antworten auf sich aufdrängende Fragen in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus suchen. Leicht geschmälert wird der Gesamteindruck lediglich durch die verknappten Darstellungen des komplexen historischen Materials. Das ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Empfehlung für alle am Thema Interessierten, die man dem Buch aussprechen kann: Es leistet einen sehr wichtigen Beitrag zur Vermittlung von Erkenntnissen der historischen Antisemitismusforschung nicht nur an Fachkräfte, sondern stellt sie einem breiten Publikum zur Verfügung.
Steffen Klävers