Petra Goedde / Akira Iriye (eds.): International History. A Cultural Approach, London: Bloomsbury 2022, 331 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-1-7809-3728-1, GBP 24,99
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Internationale Geschichte, wie sie in den USA benannt und auch bei uns als Begriff etabliert ist, integriert viele Aspekte. Dieser Band über die Zeit seit 1800 bündelt einen in den letzten Jahrzehnten verstärkt empirisch untermauerten Ansatz: den cultural approach. Er setzt sich vom herkömmlichen, für die Autoren immer noch dominierenden Ansatz ab, der sich auf Nationen, Grenzen und Diplomatie stütze und Kriege als die wichtigsten Zäsuren setze. Das nennen Gödde und Iriye pejorativ "geopolitics", ähnlich sehen sie die Rolle von Wirtschaft als viel beackerte, aber zu kurz greifende Kategorie.
Beide Autoren haben ihre Karriere in den USA gemacht. Akira Iriye, 1934 in Japan geboren, muss als einer der wichtigsten Pioniere der transnationalen Geschichte angesehen werden; Petra Gödde, aus Deutschland stammend, hat diese vielschichtige auf Kultur fokussierte Methodik herum im letzten Jahrzehnt in viele Richtungen vorangetrieben, teils zusammen mit Iriye, aber unabhängig vom Mitautor. [1] Herausgekommen ist ein sehr informierendes und anregendes Textbook, das ganz von diesem kulturellen Ansatz lebt. Macht und Kultur überschneiden sich demgemäß in vielfältiger Form. Kulturelle Entwicklungen werden zum einen als flows von Menschen, Waren und Ideen über Grenzen hinweg angesehen (5), also als das, was zumeist und auch in diesem Band "transnational" genannt wird. Es geht dabei um decentering the state und um einen kulturellen Blick, also unter anderem um die Einbeziehung von Quellen nichtstaatlicher Provenienz wie künstlerischen oder medialen Ansätzen, nicht zuletzt um race, gender und class (wobei Letzteres eine vergleichsweise geringe Rolle spielt). Auf noch einmal einer weiteren Ebene liegt ein dritter Faktor, die Globalisierung, die hier als Teil des decentering angesehen wird.
Dieser weitgesteckte Rahmen ermöglicht eine andere Periodisierung der vier Hauptkapitel. 1) Der Aufstieg der Moderne zwischen 1800 und 1870 brachte für die beiden Autoren nicht nur die Entstehung von Nationalstaaten, sondern als Pendant auch des Internationalismus und die Herausbildung Kulturen übergreifender encounters, so zwischen Religionen in den großen Imperien, im Handel, in der Migration, aber auch bei Krankheiten. Es sei unmöglich, diese vielen Aspekte globalen Bewusstseins zu generalisieren, doch habe eben auch der non-West begonnen, Shakespeare zu lesen (75). Mit dem Ansatz wird nicht wie sonst üblich eine weltweite Ausbreitung des Westens nachgezeichnet, der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Interaktion. 2) Letzteres gilt zumal für die Zeit 1870 bis 1920, in der sich ein neuer Internationalismus in dem Age of Empire (Hobsbawm) ausgebildet habe. Diese kulturelle Transformation, charakterisiert durch soziale Bewegungen von Menschen und Ideen, trage viel mehr zur Erklärung von Imperien und deren entsprechenden Kulturen bei als die herkömmliche Herrschaftsgeschichte. Dazu gehöre nicht zuletzt der imperiale Rassismus.
Der 3. Teil umfasst die Jahre 1920 bis 1970, auch hier erfolgt eine durchaus eigenwillige Interpretation wider die herkömmliche Deutung des Zeitalters der Weltkriege. Hier gab es drei Modernitäten: Die kapitalistische und die kommunistische werden in ihren Gemeinsamkeiten (etwa des Taylorismus), aber auch ihren Unterschieden klar geschieden. Eine dritte Moderne seien die colonial modernities geworden. Der Faschismus habe eine Krise der Moderne dargestellt; er könne am besten aus den Aktionen seiner Praktiker rekonstruiert werden. In denselben Teil fallen die Cold War cultures und ihre Konflikte, verstärkt zunächst durch die Rivalitäten des Atomzeitalters. Dieser Antagonismus von Ost und West sei aber immer stärker herausgefordert und bis ca. 1970 überwunden worden (wie Gödde schon in ihrem letzten Buch argumentiert hatte). [2] Die Dekolonisierung und ihre transnationalen Vernetzungen, der Aufstieg der Menschenrechte (als nützliches Werkzeug von Regierungspolitik) und einiges andere finden sich hier verortet. Bei Kriegen wie Vietnam finden sich wichtige Beobachtungen, welche die westlichen Motive von Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung durch "kulturelle Faktoren" wie Ideologie, Nationalismus, gender und race ergänzen, wenn nicht ersetzen.
Im 4. Teil, von 1970 bis in die unmittelbare Gegenwart des Jahres 2021 geführt, steht das Transnationale ganz im Vordergrund; für die Wasserscheiden von 1989 beziehungsweise 2001 (9/11) werden Züge einer transnationalen Globalisierung herausgearbeitet. Iriye und Gödde betonen das Aufkommen von Umweltbewegungen, globalem Konsum und nichtstaatlichen Akteuren, die Rolle großer internationaler Organisationen sowie die Kommunikationsrevolution. Sie beobachten die globale Amerikanisierung, fügen aber hinzu, auch die USA seien sehr viel globaler geworden als je zuvor. Globale Identitäten von der UNO und ihren Organisationen bis zum Internationalen Strafgerichtshof spielten eine immer größere Rolle, aber auch Gewalt habe global zugenommen. Die heutige Welt bündelt von Menschenrechten über Umweltprobleme und Flüchtlinge bis zur Überlappung von Weltkulturen (koreanische Pop-Bands dienen hier etwa als Beispiel) und Kosmopolitismus zahlreiche weitere Kategorien.
Insgesamt endet das Buch mit einem optimistischen Ton: Die gegenwärtigen Probleme der Welt ließen sich lösen, wenn man sich der Interdependenzen klarer werde, wenn man die Machtlosen, die Subkulturen, die Unterprivilegierten, darunter Frauen und Minderheiten, stärker einbeziehe. Dazu helfe ein kultureller Ansatz - neben geopolitischem und wirtschaftlichem Denken.
Hiermit ist der Reichtum der Ansätze und Perspektiven des Bandes nur in etwa angedeutet. Schade ist es, dass nur 100 Anmerkungen reine Zitate belegen und knappe Literaturhinweise für die jeweiligen Kapitel folgen: Da hätte man mehr gewünscht. Es hat den Anschein, als ob eine stärkere Betonung des Kulturellen an sich schon als Beitrag zur positiven Gestaltung der Zukunft angesehen wird. Die je dominierenden Problemlagen oder sozialen Kämpfe gegen die herrschenden Ordnungen, Terror und Anderes werden nicht vernachlässigt, aber immer wieder werden die eher menschenfreundlichen, emanzipatorischen oder in anderer Weise zukunftsweisenden Trends dagegen gehalten.
Für den Rezensenten ist zweifelsfrei, dass gerade der kulturelle Blick Tiefendimensionen herausarbeitet beziehungsweise langfristige Entwicklungen und damit zugrundeliegende Erklärungsmöglichkeiten gegenüber einer einseitig politischen Geschichte wichtig sind. Sie scheinen mir heute auch grundsätzlich zum Standard dazuzugehören. Daher kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Popanz einer Dominanz des "geopolitischen" Ansatzes oder - auf einer anderen Ebene - von Historikern internationaler Geschichte als "mostly white male elites" (1) mit manchmal recht verkürzten Argumenten vorgetragen wird. Gerade die 50-Jahresschritte in der unorthodoxen, innovativen Periodisierung sind anregend. Aber auch die meisten in den Kapitelzäsuren vorgestellten Erscheinungen entwickelten sich nicht nur in diesen Epochen, sondern waren ihrerseits epochenübergreifend und überlappen sich. Es ist sicher ergiebig, "kulturelle" Kontinuitäten über die großen Zäsuren von Kriegen etc. hinweg sichtbar zu machen. Aber: "Cultural historians rightly focus on content more than on causation" (2). Dann kann es auch kaum Stichjahre für neue Entwicklungen geben - dann herrscht mehr langsamer oder schneller Wandel oder flow.
Decentering the state als methodische Maxime ist gut und fruchtbar, ein Verzicht auf die Untersuchung der Rolle von Staaten und ihrer Interaktionen jedoch problematisch. Iriye und Goedde glauben zu wissen, dass die größte Herausforderung künftiger Generationen darin liegt, "to create the social, economic and political conditions that make cultural diversity not only acceptable, but desirable - and to make cultural diversity as a source of strength rather than a threat" (10). Dem kann man sich als Staatsbürger und Zeitgenosse gern anschließen, doch vielleicht hat nicht erst die Entwicklung um die Ukraine darauf verwiesen, dass die alten Paradigmen nicht überholt sind, hohen Erklärungswert behalten oder auch: Dass eine vielschichtige Verbindung von erweiterter internationaler Geschichte, die Politik, Wirtschaft und Kultur je nach Thema unterschiedlich einschließt, fruchtbarer ist als eine Primats- oder gar Dominanzdiskussion. "A cultural approach to international history [...] is fundamentally different from the usual geopolitical or economic analysis" (3). Diese Kluft scheint mir so nicht (mehr) zu bestehen.
Anmerkungen:
[1] Richard H. Immerman / Petra Goedde (Hgg.): The Oxford Handbook of the Cold War, Oxford 2013 (darin Akira Iriye: Historicizing the Cold War, 15-31); Akira Iriye (Hg.): Geschichte der Welt. 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München 2013 (darin: Gödde: Globale Kulturen, 535-669, und Iriye: Die Entstehung einer transnationalen Welt, 670-825); Akira Iriye / Petra Goedde / William I. Hitchcock (Hgg.): The Human Rights Revolution. An International History, New York 2012 (mit einer gemeinsamen Einleitung von Iriye und Gödde: Introduction: Human Rights and History, 3-24).
[2] Petra Goedde: The Politics of Peace. A Global Cold War History, New York 2019. Vgl. meine Rezension in: H-Soz-Kult, 02.07.2020; www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29783 [19.01.2023]. Vgl. Günter J. Bischof: Rezension zu The Politics of Peace. A Global Cold War History, in: sehepunkte, Ausgabe 22 (2022), Nr. 3, http://www.sehepunkte.de/2022/03/34339.html.
Jost Dülffer