Marina Benedetti / Tiziana Danelli (Hgg.): Contro frate Bernardino da Siena. Processi al maestro Amedeo Landi (Milano 1437-1447), Milano: Milano University Press 2021, 315 S., ISBN 979-12-80325-03-7, EUR 24,00
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Der Streit zwischen dem Franziskanerobservanten Bernardino von Siena und dem Inhaber einer Rechenschule für Kaufleute in Mailand, Amedeo Landi (ursprünglich Venezianer), war bisher nur aus einer Teiledition von Zeugenverhören des Jahres 1441 [1] und aus Vorarbeiten von Marina Benedetti [2] bekannt. Die Herausgeberinnen des Bandes haben die Quellen nach geduldigen Archivrecherchen so weit wie möglich ergänzt und neu ediert. Das Buch mit seinem etwas enigmatischen Titel bietet neben fünf kommentierenden Aufsätzen eine kritische Edition aller heute zum Fall "Bernardino vs. Amedeo" bekannten Texte (121-276).
Die Überlieferung ist problematisch, weil das Archiv der am Dominikanerkloster Sant'Eustorgio ansässigen Mailänder Inquisition, die sich nolens volens mit den beiden Streithähnen befassen musste, verloren ist. Die erhaltenen Spuren führen auf teils verschlungenen Wegen in franziskanische Archive, wobei die Verhöre von 1441 wegen Kriegsverlusts nur in Form von (zeitweise verschollenen) Fotos erhalten sind.
Zunächst aber zur Sache. Der Konflikt zwischen dem rigorosen Ordensmann und dem ähnlich sturen Laien entzündete sich daran, dass Bernardino während seiner Fastenpredigten 1437 mit Erfolg für das von ihm mitbegründete Observantenkloster S. Angelo in Mailand warb. Mehrere junge Männer fühlten sich zur vita religiosa berufen, darunter auch einige Schüler Amedeos. Der an religiösen Fragen stark interessierte Abakuslehrer brachte mindestens zwei von ihnen von ihrem Entschluss ab, nachdem er ihnen erklärt hatte, dass man sich zu einem so strengen Leben erst nach reiflicher Überlegung und einem privaten Probejahr zu Hause verpflichten sollte: besser Laie bleiben als ein schlechter, nämlich von seiner Regel überforderter frate werden. Derlei Ansichten - und wohl noch anderes mehr - gab Amedeo nicht nur in seiner Schule zum Besten, sondern auch auf dem Broletto, der zentralen Piazza von Mailand. Als Bernardino davon hörte, klagte er ihn in seinen Predigten öffentlich an. Das erhitzte nicht nur den Volkszorn, sondern brachte dem Rechenmeister auch Prozesse vor dem (dominikanischen) Inquisitor und dem erzbischöflichen Gericht ein. Trotz vieler belastender Zeugenaussagen kam er 1437 mit einem Freispruch davon, wahrscheinlich weil er verdächtige Ansichten widerrief und sich verpflichtete, künftig still zu sein.
Bernardino und andere Franziskanerobservanten ließen trotzdem nicht ab, ihren Kritiker coram publico zu beschimpfen. Amedeo, der nicht der Mann war, klein beizugeben, und durch die Anfeindungen und Prozesse auch in ökonomische Schwierigkeiten geraten war, wandte sich an die Kurie (er muss einflussreiche Fürsprecher gehabt haben) und erhielt 1439 ein Mandat Eugens IV. Ein Mailänder Kanoniker und Kanonist wurde als päpstlicher Richter in einem neuen Verfahren eingesetzt, das 1441 stattfand. Neue Zeugen berichteten hochinteressante Details über die beiden Protagonisten und rehabilitierten Amedeo voll und ganz. Wer fortfahre, so das Urteil, ihn zu verleumden, sei ipso facto exkommuniziert. Doch zum Unglück dieses Kohlhaas ante litteram starb Bernardino nicht lange danach (1444). Die sofort einsetzenden, intensiven Bemühungen um die Kanonisation des Predigers stießen jedoch zur Überraschung der Promotoren auf Hindernisse, und nicht das geringste davon war der Verdacht mancher Gegner, dass Bernardino, nach dem Mailänder Urteil von 1441, als Exkommunizierter gestorben sein könnte. Jetzt hatte die Kurie es eilig, das Problem aus der Welt zu schaffen: Noch Eugen IV. hob das Urteil auf, sein Nachfolger Nikolaus V. setzte ein weiteres Inquisitionsverfahren gegen Amedeo an. Neue, für den Angeklagten gefährliche Zeugenaussagen waren seit 1445 in Mailand eingeholt worden. Über den Ausgang dieses dritten Prozesses und das Ende Amedeos, der vermutlich kurz nach 1447 starb, ist nichts Sicheres bekannt; auch den Autorinnen dieses Bandes waren dazu keine weiteren Quellenfunde vergönnt. Letztlich siegte Bernardino, denn er wurde 1450 kanonisiert, musste vorher allerdings, nicht zuletzt wegen des Mailänder Skandals und ähnlich wie sein Gegner, drei Prozesse durchstehen, nur eben post mortem.
Die ausführliche Zusammenfassung des Falles rechtfertigt sich aus dem außergewöhnlich interessanten Inhalt der in diesem Buch präsentierten Texte. Die Qualität der Edition ist hoch, von ein paar Fragezeichen zur Transkription insbesondere der vier zum Dossier gehörenden Papsturkunden (265-276) abgesehen: Die Datierung eines Briefes Eugens IV. ("1431 gennaio 7") kann nicht stimmen (271), weil Eugen zu diesem Zeitpunkt noch nicht Papst war. Zugegeben, die Interpunktion in kurialen Schachtelsätzen ist für Editoren immer ein Problem; aber es wäre sinnvoll gewesen, die im Mailänder Dossier überlieferten Mandate nach der Vatikanischen Registerüberlieferung (oder nach bereits vorhandenen Editionen) zu ergänzen. Drei der vier Papstbriefe wurden in Mailand nämlich stark gekürzt, weil das Dossier - mit Ausnahme der für Amedeo positiven Zeugenverhöre von 1441- aus Abschriften besteht, die zur Vorbereitung des Inquisitionsprozesses von 1445-1447 von seinen Gegnern als pro memoria zusammengestellt wurden.
Die komplexen archivgeschichtlichen Zusammenhänge werden in drei der begleitenden Aufsätze erörtert. Marina Benedetti (15-50), die Initiatorin des Unternehmens, gibt einen instruktiven, allgemeinen Überblick über Erforschung, Geschichte und Archiv der Mailänder Inquisition seit dem 13. Jahrhundert. Marco Bascapè, Direktor des Mailänder Archivio dei Luoghi Pii Elemosinieri presso Azienda di Servizi alla Persona Golgi Redaelli, erklärt (87-102), warum sich ein Teil des Dossiers in diesem Archiv mit dem nicht sehr nutzerfreundlichen Namen befindet: nämlich deswegen, weil dort die Bestände des franziskanischen Consorzio del Terz'Ordine lagern und mehrere Drittordensmitglieder sich in den Prozessen gegen Amedeo Landi engagiert hatten. Tiziana Danelli, die auch für die Edition verantwortlich ist, fasst in ihrem Aufsatz (103-120) die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte aller heute erhaltenen Materialien zur causa Landi zusammen.
Wertvoll sind aber auch die Beiträge von zwei Kennerinnen der Mailänder Stadtgeschichte, die die hier edierten Quellen sozialgeschichtlich auswerten und durch Vergleich mit anderen Quellen ein besseres Verständnis der Zeugenaussagen ermöglichen: Beatrice Del Bo (51-66) rekonstruiert die Sozialtopografie der Mailänder Kaufmannschaft, während Nadia Covini (67-86) die in die Prozesse involvierten Laien (Notare, Kaufleute) prosopografisch untersucht.
Kurz: Das rundum gelungene Buch macht Texte des 15. Jahrhunderts zugänglich, die neues Licht auf Bernardino von Siena, auf gelebte Laienfrömmigkeit und nicht zuletzt auch auf den Gebrauch von Gerüchten, Verleumdungen, Hassreden sowie den prekären Status von Wahrheit und Lüge in vordigitalen Zeiten werfen.
Anmerkungen:
[1] Celestino Piana: Un processo svolto a Milano nel 1441 a favore del mag. Amedeo de Landis e contro frate Bernardino da Siena, in: Atti del Simposio internazionale cateriniano-bernardiniano, hg. von Domenico Maffei / Paolo Nardi, Siena 1982, 753-792.
[2] Marina Benedetti: "Per quisti ribaldi fray se disfa il mondo". Il contrasto tra Bernardino da Siena e Amedeo Landi, in: Francescani e politica nelle autonomie cittadine dell'Italia basso-medievale, hg. von Isa Lori Sanfilippo / Roberto Lambertini, Roma 2017, 299-312.
Thomas Frank