Rezension über:

Natalie Bayer / Mark Terkessidis (Hgg.): Die postkoloniale Stadt lesen. Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin: Verbrecher Verlag 2022, 250 S., ISBN 978-3-95732-526-6, EUR 20,00
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Rezension von:
Fabian Fechner
FernUniversität Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Fabian Fechner: Rezension von: Natalie Bayer / Mark Terkessidis (Hgg.): Die postkoloniale Stadt lesen. Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin: Verbrecher Verlag 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/37923.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Deutschland (post-)kolonial" in Ausgabe 23 (2023), Nr. 2

Natalie Bayer / Mark Terkessidis (Hgg.): Die postkoloniale Stadt lesen

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Wie schlagen sich Spuren des Kolonialismus im Stadtbild nieder, welche folgenreichen Strukturen und Ereignisse sind heute unsichtbar? Berlin als Kolonialmetropole bietet sich bei solchen Fragen als Fallbeispiel an. Um die Stofffülle pragmatisch einzuteilen, wird sie anhand der derzeitigen Bezirke eingegrenzt, hier anhand des 2001 entstandenen Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Dies bedeutet eine spannende Mischung, da die beiden 1920/21 geschaffenen Bezirke siedlungstypologisch ein breites Spektrum abdecken: Friedrichshain wurde aus mehreren Altberliner Vorstädten und dem Dorf Stralau zusammengeschlossen und entwickelte sich zu einem dichtbesiedelten Arbeiterviertel, Kreuzberg hat mit der südlichen Friedrichstadt und großen Teilen der Luisenstadt flächenmäßig noch Anteil am barocken Berlin. Eine wesentliche thematische Akzentuierung lässt sich nicht am Buchtitel erkennen: Das "Zusammendenken von überseeischen und kontinentalen imperialen Ambitionen erweitert die Idee des Postkolonialen" (13). Durch diese Erweiterung finden Themen wie die Kriegsrohstoffabteilung, das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS sowie das Reichssicherheitshauptamt Berücksichtigung. Somit ist auch auf Phänomene wie Binnenkolonisation (221) und "Auslandsdeutschtum" (216f.) verwiesen, die an einzelnen Stellen im Band stärker konturiert werden. Auch Unterschiede der hier zusammen analysierten Themenkreise des Kolonialstrebens und des "deutschen Ostens" werden im jeweiligen Einzelfall zur Sprache gebracht (z.B. 289).

Durch die chronologische Ordnung der insgesamt 33 Beiträge von 20 Autor:innen wird deutlich, welche Spuren schon vor dem formalen Beginn der deutschen Kolonialherrschaft festzustellen sind, besonders ausdifferenziert etwa am Beispiel der der Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Mission unter den Heiden. Neben dem sonst oft vorherrschenden kirchengeschichtlichen Fokus wird hier Mission auch als administratives Phänomen aufgefasst, was dann auch den Blick für Konflikte zwischen verschiedenen Missionseinrichtungen schärft.

Besonders stark ist der Band dort, wo er sein biographisches Potential voll ausspielt: Der ehemalige Sklave Friedrich Wilhelm Marcellino wird zum Teil eines solidarischen Netzwerks; der in Ägypten dem Prinzen Albrecht "geschenkte" August Sabac el Cher steigt zum Silberverwalter im prinzlichen Palais auf und wird schließlich auch naturalisiert; der aus Deutsch-Ostafrika stammende Mtoro Bakari verdient als Sprachlehrer für Swahili und Vortragsredner seinen Lebensunterhalt; Quane a Dibobe aus Kamerun gelangt wegen der Deutschen Kolonialausstellung 1896 nach Treptow, absolviert eine Mechanikerlehre, gründet eine Familie und wird schließlich Lokführer der Hochbahn; der Lebenslauf des Kameruners Theophilus Wonja Michael - bekannt durch die Biographie seines Sohnes Theodor - wirft ein Schlaglicht auf die afrikanische Diaspora Berlins im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik.

Ein Blickfang sind die Ausführungen zu Sammlungen, die zeitweise im heutigen Bezirk untergebracht waren: das Königliche Museum für Kunstgewerbe und das Königliche Museum für Völkerkunde. Ebenso aussagekräftig ist das, was nicht mehr ist oder nie wurde: An das 1885 auf Höhe der Wilhelmstraße 10 eröffnete Kolonialpanorama, ein Rundgemälde, das publikumswirksam eine "Strafexpedition" im Vorjahr in Kamerun darstellte, erinnert seit dem Abriss des Gebäudes 1892 nichts mehr. Und das seit 1908 für den Baltenplatz (den heutigen Bersarinplatz) geplante Kolonialkriegerdenkmal wurde letztlich in Berlin nicht verwirklicht - ein sprechendes Beispiel dafür, dass prokoloniale Haltungen auch im Kaiserreich nicht automatisch Mehrheitsmeinung waren und in diesem konkreten Fall Diskussionen in Stadtverwaltung, Reichstag, Zivilgesellschaft und Kolonialverbänden sehr kontrovers ausfielen. Ähnlich vielstimmig und diskursgeschichtlich überzeugend gelingen Ausführungen zu Debatten 1890 innerhalb der SPD.

Die überwältigende Mehrheit an präzisen Orten, Daten und Ereignissen kann als Teil einer (post)kolonialen Topographie, einer dichten Textur, gelesen werden. In einigen wenigen Fällen sind die Bezüge aber eher lose und eigentümlich ortlos. Dies gilt beispielsweise für den Beitrag "1916 - Der erste Balkan-Zug startet am Anhalter Bahnhof": Von sieben Seiten sind zehn Zeilen dem Thema der Überschrift gewidmet (218). Dass der Anhalter Bahnhof Zwischenhalt der nur teilweise realisierten Bahnverbindung Hamburg-Bagdad hätte werden sollen, wird als Aufhänger zu ausgreifenden Ausführungen zum Themenkomplex "Kolonialismus und Eisenbahn" genommen. Der zeitliche und räumliche Ankerpunkt aus der Überschrift wird zum bloßen Stichwortgeber einer eigentlich separaten Geschichte.

Alles in allem ist der facettenreiche Band ein willkommenes Angebot, die bekannt geglaubte Geschichte eines Berliner Bezirks kolonialismus- und expansionismuskritisch gegen den Strich zu bürsten. Die Texte sind präzise belegt und dennoch flüssig geschrieben. Der Band knüpft an bereits erarbeitete Themen an und entwickelt zudem kaum bekannte Aspekte weiter, wie etwa die Afrikareisen von Walther Rathenau und die Deutsche Kolonial Filmgesellschaft. Das breite Themenspektrum kann Beispiel und Anregung für andere stadthistorische Projekte sein. Die transparente Darstellung der eigenen praktischen Vorgehensweise (15) und der Quellenproblematik, etwa hinsichtlich von nicht (mehr) vorhandener Überlieferung (57, 65, 102, 173, 243, 280, 293), ist ebenfalls ein guter Ausgangspunkt für künftige Forschungen. Deshalb ist dem vorliegenden Werk eine Verbreitung weit über die Grenzen Berlins hinaus zu wünschen.

Fabian Fechner