Reinhold C. Mueller: Venezia nel tardo medioevo / Late Medieval Venice. Economia e società / Economy and Society, a cura di / edited by Luca Molà, Michael Knapton, Luciano Pezzolo (= I libri di Viella; 382), Roma: Viella 2021, 628 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-88-3313-781-0, EUR 75,00
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Michael Matheus (Hg.): Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung. Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung, Berlin: De Gruyter 2012
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Zunächst ein Blick auf die Abbildung auf dem Buchdeckel, einen Majolika-Teller von 1495: Abgebildet ist der Doge Agostino Barbarigo mit Entourage; er überwacht die Beladung eines Schiffes mit Säcken voller Münzen verschiedener Herkunft (an Silbergeld venezianische marcelli und troni, außerdem Goldwährungen: anconitanische, ungarische und päpstliche Dukaten). "Fate, fate, fate, e non parole" - "Taten, Taten, Taten, und nicht Worte!", so die comicartig dargestellten Worte des Dogen, als er das Schiff zur Hilfe von Neapel gegen Karl VIII. schickt.
Drei Freunde und Schüler nutzen das Bild als schöne Reminiszenz an Reinhold Christopher Mueller, den unermüdlichen Erforscher der venezianischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, und seine Venezianità. [1] Sechsundzwanzig, eigens für den Band bibliographisch aktualisierte Aufsätze aus den Jahren 1971 bis 2015 bieten sie in fünf thematischen Blöcken dar: 1. Institutionen und Gesellschaft, 2. Geldversorgung und Münzprägung, 3. Wucher, Bankwesen, und Juden, 4. Fremde, 5. Lo Stato da Mar (also das maritime Kolonialreich). Denjenigen, die den Band lesen werden (und das sollten viele sein), eröffnet sich somit die Möglichkeit, ein forscherisches Œuvre aus über vierzig Jahren gleichsam im Zeitraffer nachzuverfolgen. Dabei lässt sich das beständige Interesse Muellers auf dem Feld der Wirtschaftsgeschichte erkennen, ferner eine - wie mir scheint - gewisse Verschiebung von der Institutionen- hin zur Sozialgeschichte mit der Zeit, und auch das mit den Jahren immer tiefere Eindringen in die reichen Quellenbestände der Serenissima und Norditaliens durch den dort beheimateten Forscher.
Beobachtungen (aus der Dissertation von 1969 entwickelt) zum Amt der Procuratori di San Marco und ihrer Funktion als öffentlicher Finanzinstitution (1), Analysen zu Testamenten als Indikatoren für den sozialen Status nach der Schließung des großen Rates und der damit verbundenen, für Venedig typischen Definition eines oligarchischen Patriziats von vierundzwanzig Familien (2), die ökonomische Unterstützung der Republik durch Frauen und andere Auswirkungen des Chioggia-Krieges, von Wohlstandsverlust bis zum Profiteurismus (3), karitatives Wirken in Venedig in der Außensicht eines Mailänder Gesandten (4), Begräbniskulturen im Spiegel des Rechnungsbuches eines Mitglieds der Scuola grande di San Marco (5) - diese Studien bilden den ersten Block.
Saisonale Verfügbarkeit von Bargeld und Wechselkurse (6), Marktdynamiken im Spannungsfeld von Bargeldumlauf und Rechnungswährungen (7), Münzfälschung (8) und Geldkrisen (9), u.a. nach 1453, venezianischer "Finanzimperialismus" im Zuge der Expansion in die Terraferma seit 1405 (10), harte wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Venedig und Mailand (im Zuge derer auch in Mailand die Errichtung eines Fondaco de' Tedeschi ventiliert wurde) (11), sind Themen des zweiten Blocks.
Jene des dritten umfassen die sprachliche Überlappung wirtschaftlicher und theologischer Terminologie im Hinblick auf Heilsökonomie und Wucher (12), die Menschen hinter der Rolle des Bankiers in ihren Testamenten (u.a. der Condulmer-Clan) (13), die Geschichte der jüdischen Geldleiher in der Stadt (14), dem venezianischen "Commonwealth" (15) und in Mestre (16).
In der vierten Sektion stehen Aufsätze zur Identität und Identifikation fremder Händler und ihrer Waren in Venedig (17), zu Veroneser Kaufleuten und der Frage des Bürgerrechts (18), zu Mailänder, Mantuaner und Luccheser Investoren am Rialto - "Venice's Wall Street" (437) - (19), zu den nicht sonderlich einigen Florentiner Kaufleuten und Handwerkern, die mal einen sicheren Hafen in der Lagune finden (1433), mal angesichts politischer Spannungen (1451) aus ihr geworfen werden (20), aber auch zu den Griechen - mit der ganzen Spannbreite von Intellektuellen und Professionellen über Ruderer und Diener bis hin zu Kriminellen (21).
Der Stato da Mar im venezianischen Herrschaftsgebiet des östlichen Mediterraneums bildet den Abschluss, mit besonderem Fokus auf Dalmatien (22) und Corfu (23). Sie sind Rohstoffressourcen und Handelsplätze, zu denen selbst die süddeutschen panni de fontego zu Schiff gelangen (557), an denen karitative Institutionen, Monti und Kornspeicher errichtet werden (24) und wo oft prävalent Tauschhandel betrieben wird (25). Aber sie sind auch Menschenmärkte: Während die jeunesse dorée hier mit Ämtern versorgt wird und für sie bei Amtsantritt schon einmal Litaneien (laudes) in den lokalen Kirchen gesungen werden (512), während sich Familiendynastien ausbilden und Amtsmissbrauch grassiert (26), rekrutiert Venedig hier seine Ruderer und Haussklav:innen (erschütternd und zugleich systemisch bedingt der Standpunkt des Condulmer-Papstes Eugen IV.: besser, sie werden hier an Christen verkauft als an die Osmanen; 526, Anm. 51: "[...] le podesse vendere a Cristiani avanti le fosse vendudi in Turchia").
Bei all dem versteht es Mueller meisterhaft, die Analyse der großen Strukturen zu verknüpfen und hinabzuführen bis zu den kleinen Lebenswelten, sei es, wenn wir im Spiegel von Gerichtsakten dem Taschendieb über die Schulter schauen, wie er gerade sechs Münzen aus einem Portemonnaie zieht (183), wenn zwölf aufgrund von Meuterei verbannte Ruderer mit ihren zerfurchten Händen und gegerbten Gesichtern, Narben, Warzen und Pocken vor uns stehen (414f.) oder wenn eine verheiratete Jüdin sich noch gerade so dem geifernden venezianischen consigliere von Negroponte ("Che diavol vatu fazando chon 'ste to tete discoverte?", 581) durch Flucht entziehen kann, bevor dieser später im Gefängnis in Venedig schmort und nach seiner Freilassung bald durch eine Messerstecherei in der Markuskirche auffällt.
Mueller macht das Leben im spätmittelalterlichen Venedig aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Sicht im Großen und Kleinen verständlich und plastisch, in seiner Grandezza und seinen Schattenseiten, angesichts einer äußerst pluralen Überlieferung, die Forschenden kaum einen Aspekt des menschlichen Lebens verbirgt, wenn man es nur in den Quellen zu greifen weiß.
Anmerkung:
[1] Es handelt sich um die sogenannte Leverton Plate, Cambridge, The Fitzwilliam Museum, C.62-1927 (https://collection.beta.fitz.ms/id/object/80774), eine s/w-Abbildung schon in Reinhold C. Mueller: The Venetian Money Market: Banks, Panics and the Public Debt, 1200-1500, Baltimore 1997 (ND 2019.)
Tobias Daniels