Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, München: C.H.Beck 2022, 639 S., zahlr. Kt. und Abb., ISBN 978-3-406-77345-7, EUR 39,95
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Die fruchtbare Verbindung von Geographie und Geschichte wurde in der französischen Wissenschaft von beiden Seiten stets besonders gepflegt. Es sei nur an Fernand Braudel erinnert. Das in jeder Hinsicht gewichtige Werk des historischen Geographen Christian Grataloup setzt diese Tradition in höchst anspruchsvoller Weise fort. Auf plakativ reduzierten Karten, aber mit Einsatz reicher farblicher und symbolischer Mittel wird die Raumdimension der gesamten Geschichte vorgestellt. Dazu kommen jeweils zwar notwendigerweise verkürzte, aber zumindest nicht unzutreffende ergänzende Textkommentare. Der regelmäßige Verweis auf andere, thematisch verwandte Karten erschließt den Band noch zusätzlich, von der Auswahlbibliographie, dem Personen- und Ortsregister ganz abgesehen. Mittels sorgfältiger Komposition (10) soll die gesamte Weltgeschichte von den Anfängen der Menschheit bis zur Gegenwart der Kriege am Golf, in Syrien und der Ukraine in dreizehn Kapiteln ungleichen Umfangs detailliert dargestellt werden. Ein dennoch unvermeidliches, gelindes europäisches Übergewicht ist der banalen Tatsache geschuldet, dass die globale Welt durch Europa zustande gekommen ist, auch dort, wo es um Untaten ging.
Altamerikanische, pazifische, afrikanische und arktische Zivilisationen blieben lange ohne Verbindung mit der übrigen Welt. Die Gesellschaften der alten Welt Asiens und des Mittelmeerraums hingegen können zwar als verschieden, durchaus aber auch als vernetzt dargestellt werden. Dabei macht Grataloup das 7. Jahrhundert wegen der Spaltung des Mittelmeerraums zu einem zeitlichen Scharnier. Davor und danach ist jeweils von den einzelnen Gesellschaften der Alten Welt die Rede. Ihnen ist einer der beiden Schwerpunkte des Bandes gewidmet. Ihr erster Zyklus beginnt mit Japan und endet mit den Merowingern, der zweite führt vom Aufstieg des Islam zu Japan und Afrika im ersten Jahrtausend. Anschließend wird das 15. Jahrhundert mit Italien und der europäischen Expansion kurz als Achse der Alten Welt eingeführt, denn hinfort geht es nicht mehr um ein Nebeneinander, sondern um die Europäisierung der Erde einerseits, um dieses Europa und seine Länder andererseits. Der darauf folgende Zyklus ist dem langen 19. Jahrhundert gewidmet, zuerst seinem europäisch dominierten Universum, weiter den Mächten der neuen Welt und zum Schluss abermals Europa selbst. Anschließend behandelt das längste Kapitel die Weltherrschaft des Westens 1914-1989, vor allem die beiden Weltkriege und die Dekolonisation einschließlich der türkischen, deutschen und japanischen Kriegsverbrechen und der Flüchtlingsströme. Erwartungsgemäß haben auch die zwanzig Karten im Schlusskapitel zur Welt seit 1989 nicht mehr viel Gutes zu berichten.
Der Atlas wechselt geschickt zwischen großmaßstäblichen Überblicken und kleineren Detailkarten für räumliche und zeitliche Ausschnitte, so zum Beispiel bereits für die Welt des antiken Griechenland einerseits, für die Rivalität von Athen und Sparta im 5. Jahrhundert andererseits. (72-75) Neben seiner universalen Perspektive zeichnet ihn darüber hinaus die Behandlung wenig beachteter und neuartiger Themen aus. Zum Beispiel werden neben der Ausbreitung der frühen Menschen auch die Hindernisse kartiert, die dieser im Wege standen. (17) Unter diesen eher ungewöhnlichen Themen wäre die "grüne" Sahara vor 5000 Jahren zu nennen (58), der Zuckerhandel des 15. Jahrhunderts und das Vorkommen von Zucker in einschlägigen Rezepten (226), aber auch die Darstellung der Renaissance (232) und des italienischen Kultureinflusses (236). Die Kartographie des freigeistigen Europas erfasst sogar die Pornographie (308). Es gibt Karten über so verschiedene Gegenstände wie die Ausbreitung von Nachrichten im vormodernen Frankreich (325, 396), den Kulihandel (358) sowie die Verschickung von Sträflingen (362) und zu den Kriegsopfern und Kriegsschäden, notabene mit Zahlen (442, 448, 453). Hochaktuell sind Karten für die Tiefseekabel wegen ihrer Bedeutung für das Internet (592), für die Mauern und Grenzzäune nicht nur in Deutschland, Israel und den USA (593) und natürlich auch für den Klimawandel (596).
Angesichts der ungeheuren Masse verarbeiteter Daten kann es trotz größter Sorgfalt nicht ohne Fehler abgehen. Einige aus den Arbeitsgebieten des Rezensenten sollten bei und mit Nachdruck bereinigt werden: (29) sind die Signaturen für Maya- und Nahua-Stätten vertauscht. (51) muss es "bis Burgund" heißen, nicht "bis zum Burgund", (55) "beanspruchtes", nicht "begehrtes Territorium". (78) Bologna hieß früher "Felsina", nicht "Festina". (88) bezeichnet Grün nicht eine "Ursprungsregion von Sklavenaufständen", sondern eine "Herkunftsregion von aufständischen Sklaven", denn die Aufstände selber fanden in Italien statt. (121) Die Unterscheidung von "Christen der Ostkirche" und "orthodoxen Christen" bleibt unklar. (170) Im mittelalterlichen München gab es zwar eine verfolgte jüdische Gemeinde, aber weder eine Gemeinde des 1. Jahrhunderts noch ein jüdisches Zentrum des Mittelalters. (225) muss es heißen "Königreiche Indiens", nicht "Königreich Indien". Zu (260) hätten m. E. der Atlas und die Datenbank zur Afrikanersklaverei in der Bibliographie Erwähnung verdient. [1] (275) ist die Signatur für die Niederlande unvollständig. (303) sind die Flächensignaturen für katholisch und lutherisch vertauscht. (311) "il Gesù", nicht "Jegesù".
Derartige nötige und weitere mögliche Detailkritik ändert aber nichts daran, dass "der" Grataloup seinem hohen Anspruch vollauf gerecht wird. Es handelt sich um ein ausführliches und zuverlässiges Kompendium der Raumgeschichte auf dem aktuellen Forschungsstand, das außerdem erfolgreich mit Globalgeschichte ernst gemacht hat. Weite Verbreitung muss man ihm auch angesichts des bescheidenen Preises für die glänzende Ausstattung wohl kaum noch wünschen.
Anmerkung:
[1] David Eltis / David Richardson, Atlas of the Transatlantic Slave Trade, New Haven 2010; https://www.slavevoyages.org/>.
Wolfgang Reinhard