Rezension über:

Philipp Brockkötter / Stefan Fraß / Frank Görne et al. (Hgg.): Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 449 S., ISBN 978-3-946317-91-3, EUR 80,00
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Rezension von:
Jörg Erdtmann
Trier
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Erdtmann: Rezension von: Philipp Brockkötter / Stefan Fraß / Frank Görne et al. (Hgg.): Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37569.html


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Philipp Brockkötter / Stefan Fraß / Frank Görne et al. (Hgg.): Vertrauen und Vertrauensverlust in antiken Gesellschaften

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Im Zuge der Diskurse um Sozialkapital und insbesondere seit den Arbeiten Robert Putnams fand der Faktor Vertrauen in den Geistes- und Sozialwissenschaften während der letzte zwei Jahrzehnte überaus breite Thematisierung. In der althistorischen Forschung erfolgte eine Beschäftigung mit Vertrauen zunächst in erster Linie als Begleitaspekt verschiedener, vor allem netzwerkassoziierter und ökonomischer Zusammenhänge. Speziell für antike Handelsbeziehungen wird die Relevanz zugrundeliegender Vertrauenskonzepte zunehmend betont und ist dementsprechend Gegenstand aktueller wirtschaftshistorischer Forschungen. [1] Zuletzt gewann aber auch die Beschäftigung mit Vertrauensfragen in anderen antiken Lebensbereichen deutlichen Auftrieb. Jan Timmers 2017 erschienene Monographie ist in dieser Beziehung als wichtig und impulsgebend zu nennen. [2] Die vorliegende Publikation zu sozio-politischen Vertrauensthematiken basiert auf einer Gießener Tagung des Frühjahrs 2019, die sich Vertrauenserosionen und Zuständen des Misstrauens respektive verlorenen Vertrauens widmete. Die Herausgebenden sehen in dieser Negativherangehensweise einen gangbaren Ansatz zur Fassbarmachung von Vertrauensaspekten. Qualitativen Aussagen über das jeweilige situative Vertrauen könne man sich am besten über den Skalierungsgrad an Vertrauensabwesenheit annähern. Anspruch des Bandes ist es, Vertrauen für die altertumswissenschaftliche Forschung als heuristisch anwendbare Kategorie zu etablieren. Die insgesamt sechzehn Fall- und Gegenstandsstudien decken ein zeitliches Spektrum vom Perserreich bis in die Spätantike ab. Ein Schlussteil zieht ein Gesamtresümee. Auf ein Quellen- und ein Stichwortregister wurde verzichtet, was für eine Publikation mit der genannten Zielsetzung jedoch sehr wünschenswert gewesen wäre.

Den Band zeichnet aus, dass die in paradigmatischer Weise mit vielschichtigen Vertrauenserosionen und -verlusten verbundene spätrepublikanische Zeit in verschiedenen Phasen und Facetten sehr ausführliche Thematisierung findet. Ebenso viel Platz eingeräumt wurde der Folgeperiode des in Hinsicht auf Vertrauensroutinen noch nicht vollständig gefestigten frühen Prinzipats, einer Zeit, die von Vertrauenswiedergewinnung sowie von der Verarbeitung und ideologischer Ausdeutung des Bürgerkriegstraumas geprägt war. Insgesamt zehn Beiträge referieren zu diesem thematischen Großkomplex, sodass im Gesamtbild nachverfolgbar wird, wie im Laufe dieser gesellschaftlichen und politischen Krisenzeit die in der mittleren Republik offenbar hohen Vertrauensmomente in Institutionen, Akteurstypen und gesellschaftliche Verhaltenskonventionen sukzessive erodierten und schließlich mit der Herausbildung eines veränderten politischen Systems sich - nicht zuletzt unter beträchtlichen Bemühungen der tonangebenden Akteure - wieder neu formierten. In der Gesamtschau wird ebenso deutlich, wo sich Kipppunkte des Vertrauens in spätrepublikanischer Zeit abzuzeichnen, und wo sich beim restituierten Vertrauen der frühen Prinzipatszeit neue Sollbruchstellen aufzutun schienen. Acht Beiträge hierzu seien nachfolgend angerissen: Karen Piepenbrink veranschaulicht das lange Zeit kaum zu erschütternde republikanische Institutionenvertrauen, indem sie aufzeigt, dass in der politischen Rhetorik selten artikuliertes Misstrauen sich allenfalls gegen Einzelakteure, nie aber gegen Institutionen richtete. Frank Görne stellt hinsichtlich der tribunizischen Interzessionspraxis heraus, dass die stets lagesondierende und mit transparenten Kommunikationsvorgängen einhergehende Vetopraxis als balancierendes Instrument institutionellen Misstrauens das Institutionenvertrauen der plebs maßgeblich gestützt und damit systemstabilisierend gewirkt habe. Der Beitrag von Fabian Knopf geht dann auf die größer werdende politische Dysbalance im Zuge der Korruptions-Skandale der späten Republik ein. Das wachsende Misstrauen der plebs in Teile der Senatsaristokratie habe die nun vermehrt karriere- und eigennutzorientierten Handlungsweisen von Volkstribunen befeuert. Auch Jan Timmer behandelt veränderte Verhaltensgewohnheiten politischer Akteure der späten Republik. Am Umgang mit Enttäuschungen zeigt er auf, dass die Erschütterung traditioneller Erwartungsselbstverständlichkeiten im Miteinander der Senatsaristokratie neue, an die politische Situation angepasste, aber von enttäuschtem Vertrauen geprägte Kooperationsstrategien gezeitigt habe. Katarina Nebelin untersucht, welche Faktoren für die Gefolgschaft von Soldaten bei den eigentlich als Ungeheuerlichkeiten geltenden Märschen auf Rom entscheidend waren. Sie folgert, dass die Soldaten zuungunsten der republikanischen Institutionen zunehmend ihre Feldherren als legitime Verkörperung der res publica und ihrer Werte betrachtet hätten. Einen logischen Anschluss daran bietet der Beitrag von Philipp Brockkötter. Er beschäftigt sich mit einer auf Herrschaftszutrauen basierenden Deutung des auctoritas-Begriffs und stellt heraus, dass Augustus als "Zugangspunkt" eine Blaupause des auctoritas-Verständnisses geliefert habe, mit deren Nachahmung seine Nachfolger Vertrauen in ihre Herrschaft haben generieren können. Markus Kerstens Beitrag über epische Treubrucherzählungen führt die nachhaltige Erschütterung und einen Verbindlichkeitsverlust von Vertrauensnarrativen im Zuge der Bürgerkriege vor Augen. Tim Helmke untersucht fokalisierend die fides-Bezeugungen in den exempla des Valerius Maximus. Er weist nach, dass die Gegner der Caesar-Partei darin stets Empfänger, nie aber Geber von Vertrauen seien, was sie als unterlegene und inferiore Akteure kennzeichne. Darin spiegele sich die tiberianische Herrschaftsideologie.

Die Beiträge argumentieren großenteils unter Rückgriff auf soziologische Ansätze zur Vertrauensthematik: Dies vor allem über den systemtheoretischen Zugang, wonach Vertrauen mit einer Reduktion von sozialer Komplexität und dem Freiwerden von Ressourcen für die Beschäftigung mit anderen Dingen einhergehe. Hier wird verschiedentlich ein Konnex mit der Transaktionskostentheorie aus der Neuen Institutionenökonomik hergestellt, wie es insbesondere bei Görne und Knopf der Fall ist. Auf das Vorliegen von spezifischen Kommunikations- respektive Aus- und Verhandlungsprozessen zwischen Akteuren - meist zwischen Gebern und Nehmern von Vertrauen - wird in einer Mehrheit der Beiträge rekurriert. In dieser Hinsicht weisen etwa Helmke, Brockkötter, Knopf und Görne asymmetrischen Reziprozitäten - etwa in Bezug auf Geber- und Nehmerrollen, Informationsbesitz und Machtverhältnissen - äußerst relevante Rollen in Vertrauenskontexten zu. Handlungs- und Rollenerwartungen werden in diversen Aufsätzen sowohl für politische als auch gesellschaftliche Kontexte thematisiert. Letzteres etwa bei Isabelle Künzer, die sich mit Selbstmord als Bruch reziproker Verpflichtungen befasst. Vermeintliche Devianz als Agitationsmotiv zur Beeinflussung von öffentlichem Vertrauen thematisieren Christopher Degelmann und Karl Matthias Schmidt. Der Band macht deutlich, wie Unsicherheitsgefühle und Vertrauensschwund infolge enttäuschter Erwartungen gesellschaftliche Transformationsvorgänge maßgeblich befeuerten. Ferner, dass Problematiken rund um antike Vertrauensaspekte im Allgemeinen ausgesprochen gut über die Heranziehung soziologischer Ansätze erschließbar sind. Auch überzeugt die Methode, Vertrauensfragen am Grad seiner Erosion oder Abwesenheit anzugehen. Entsprechend bietet der Band gute Anstöße zu diesem in der althistorischen Forschung noch weitgehend unerschlossenen Untersuchungsfeld.


Anmerkungen:

[1] Siehe hierzu etwa die Beiträge der Trierer Tagung "Vertrauen als ökonomische Ressource in der antiken Marktwirtschaft": https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126870

[letzter Zugriff: 22.3.2023].

[2] Jan Timmer: Vertrauen. Eine Ressource im politischen System der römischen Republik (Campus historische Studien Bd. 74), Frankfurt a. M. [u. a] 2017.

Jörg Erdtmann