Rezension über:

Lior Lehrs: Unofficial peace diplomacy. Private peace entrepreneurs in conflict resolution processes (= Key Studies in Diplomacy), Manchester: Manchester University Press 2022, 294 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-1-5261-4765-3, GBP 85,00
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Rezension von:
Jost Dülffer
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Jost Dülffer: Rezension von: Lior Lehrs: Unofficial peace diplomacy. Private peace entrepreneurs in conflict resolution processes, Manchester: Manchester University Press 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37581.html


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Lior Lehrs: Unofficial peace diplomacy

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Was ist inoffizielle Friedensdiplomatie? Der israelische Journalist Uri Avnery charakterisierte es so: "They do not have an organisation or password [...] they know each other and engage in [making] contacts that disregard boundaries" (212). Er ist einer der vier Protagonisten, die in dieser an der israelischen Universität in Jerusalem entstandenen Dissertation näher vorgestellt werden. Wissenschaftlich formuliert, geht es um private peace entrepreneurs (PPEs): Sie sind Lehrs zufolge "individual private citizens who, without official authority, initiate channels of communication with official representatives from the opposing side during a conflict, in order to promote a conflict resolution process" (1). Wichtig ist dem Autor darüber hinaus, dass der Vermittler auf Seiten einer der Konfliktparteien verankert war, aber eben ohne Amt agierte.

Der Band zerfällt in zwei recht unterschiedliche Teile. Den Rahmen von etwa einem Drittel des Textes bildet eine theoretisch-methodische Reflexion über PPE, dazwischen stehen vier Fallstudien. Diese sind alle gründlich aus Quellen, oft aus Archiven, auch aus oral history geschöpft, verarbeiten durchweg auf guter Basis den Stand der historischen Forschung. Jede Fallstudie, die alle in ihren Eckdaten zwischen 1962 und 1993 angesiedelt sind, gibt zunächst einen Überblick über den Konflikt, dann über die Person und verhandelt anschließend den Ablauf der Friedensinitiative bis zu einem Ergebnis - egal, wie durchschlagend der Konflikt schließlich dauerhaft oder nur zeitweilig befriedet wurde.

Norman Cousins, Anhänger der United World Federation, war 1957 einer der Gründer des US National Committee for a Sane Nuclear Policy. Von dort aus entwickelte er zu Eisenhower in dessen letzten Präsidentenjahren, dann aber vor allem zu John F. Kennedy persönliche Kontakte. Als Verhandlungen über nukleare Abrüstung stockten, fand er auch Kontakt zur sowjetischen Seite, so zu Nikita Chruschtschow. Nicht nur in der Sache, selbst in der von Lehrs mitanalysierten Sprache wurde der der Abschluss des Nuclear Test Ban Treaty 1963, wenige Monate vor der Ermordung des US-Präsidenten, von Cousins beeinflusst.

Suzanne Massie war gut zwanzig Jahre später in ähnlicher Mission unterwegs, indem sie als einzelne Aktivistin zwischen Ronald Reagan und bald dann Michael Gorbatschow in Sachen Rüstung vermittelte. Überzeugt davon, dass man einen Unterschied zwischen kommunistischem Regime und russischem Volk machen müsse, suchte und fand sie Kontakt zu Reagan, der ihr - entgegen seinem evil empire-Wort - zuhörte, dann auch über Valentin Bereschkov 1984 zur sowjetischen Führung. Sie wollte gern offiziell US-Botschafterin werden, was misslang. Bei Reagans Moskaubesuch 1988 sei ihr Einfluss "evident" gewesen: Der US-Präsident habe, wie empfohlen, über den Beitrag russischer Frauen gesprochen.

Den nordirischen Fall 1973-1993 behandelt Lehrs anhand von Brendan Duddy. Ursprünglich ein katholischer Kommunalpolitiker, knüpfte er Kontakte zu Führern der unterschiedlichen protestantischen Organisationen, ebenso wie zur Irish Republican Army, dann auch zu Michael Oatley vom britischen Geheimdienst MI 6 wie zur britischen Nordirland-Regierung. Viele Kontakte fanden in Duddys Haus statt. 1975 gab es einen Waffenstillstand im latenten Bürgerkrieg, dann eskalierten die Spannungen wieder, unter anderem durch Hungerstreiks, bei denen er zu vermitteln suchte. Schließlich gab es offizielle Verhandlungen unter Einschluss britischer Regierungsstellen, gipfelnd im Good Friday Agreement von 1998. Ein Mitarbeiter des britischen Inlandsgeheimdienstes bewunderte rückblickend bei Duddy eine "combination of courage, ingenuity and dogged determination never to give up" (184).

Schon in den 1950er Jahren in seinem journalistischen Metier als Aktivist für Ausgleich mit Palästinensern tätig, entwickelte Uri Avnery ein zunehmend dichteres internationales Netz zu Regierungen westlicher Länder, aber auch in arabische Staaten. Gerade die Kontakte zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) waren lange Zeit in Israel noch strafbar; es entstand der Eindruck, dass die Gemäßigten beider Seiten vergeblich nach Gesten des Ausgleichs der anderen Seite Ausschau hielten. Der palästinensische Gesprächspartner Issam Sartawi wurde sogar ermordet. Es entstand eine Art vicious circle. Mitte der 1980er Jahre sei dann ein Wendepunkt erreicht worden, mit dem ein gradueller Prozess in die ausgleichende Richtung gelenkt werden konnte. "The PPEs shifted to the center" (241); die Oslo-Abkommen von 1993 waren die Folge von Avnerys fast 20-jährigen Bemühungen - trotz aller fortdauernden Opposition in Israel.

Über den erwähnten theoretischen Rahmen hinaus sucht Lehrs nach jedem Fallbeispiel zu Analysen und Schlussfolgerungen zu kommen. Diese Ausführungen sind frei vom sonst vielfach üblichen komplexen Politologenjargon gehalten; bleiben wir bei Avnery: Da geht es - oft in mehrere Kategorien untergliedert - um "influence patterns", "variables [...] related to PPEs" ("resources of access and networks", "resources of knowledge", "value-based resources"), "variables [...] related to their peace initiative, and those that are external" (mit fünf Unterkategorien) (16-23). Welche Erkenntnis bringt das? Es wird hier ein neues Forschungsfeld ausgemacht, das nach Ansicht des Autors - wie oft in solchen Fällen - weiterer Studien bedürfe. Lehrs benennt im Anhang insgesamt 40 weitere Fälle, die zur ausbaufähigen Datengrundlage erklärt werden. Einer der ersten ist der berühmte Freihandelsvertrag von 1860 zwischen Großbritannien und Frankreich, der umstandslos Richard Cobden, nicht seinem französischen Partner Michel Chevalier zugeschrieben wird. Solche Fälle werden in die Schlussbetrachtung für das ganze Forschungsfeld einbezogen: Was wäre gewesen, wenn der deutsche Reeder Albert Ballin 1912 bei PPE-Verhandlungen in London mehr Erfolg gehabt hätte; wäre dann der Erste Weltkrieg vermieden worden? Da geht es um die Grundfrage von Fehlwahrnehmungen und Missverständnissen.

Aus meiner Sicht hätten solche Kategorien primär dann Sinn, wenn sich aus diesen und weiteren Forschungen auch prognostische Ergebnisse ableiten ließen. Das dürfte jedoch kaum der Fall sein, da zum Beispiel die genannte Gefahr von Fehlwahrnehmungen der anderen Seite - über Ziele, Instrumente, Konzessionsbereitschaft und vieles mehr - immer bis zu einem gewissen Grad möglich oder gegeben ist -, nicht jedoch die Chance, wie man diese vorausschauend vermeiden könne. Die Feinziselierung des Autors geht so weit, dass er unter den sozialen Charakteristika der Protagonisten festhält, die meiste Aktivität hätten diese im Alter von 50 oder mehr Jahren entfaltet. Was sagt das? Es ist Lehrs gern zuzugestehen, dass den PPEs drei Einflussmuster zur Verfügung standen: Mediation, Krisenmanagement und Versöhnungsgesten (263). Genau darin hatten die vier vorgestellten Personen letztlich Erfolg. Das macht sie zu bemerkenswerten Menschen, zu Friedensaktivisten, die Wichtiges geleistet haben und die fortdauerndes öffentliches Interesse verdienen.

Alle weiteren Folgerungen scheinen arg gesucht zu sein. Zudem kann Lehrs der Täuschung post hoc, ergo propter hoc methodisch nicht ganz entgehen: Wenn etwas nach der Vermittlung geschah, geschah dies auch deswegen? Gewiss führt er Aussagen von Protagonisten an, die betonen, die PPE sei wichtig, gar zentral gewesen. Aber auch wenn Suzanne Massie unbenommen große Verdienste für die kulturellen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA hatte: War das zentral für die Abrüstungsabkommen? Wurde sie wie andere PPEs nicht vorrangig von Offiziellen benutzt, um unverbindliche Sondierungen mit jederzeitiger Rückzugsmöglichkeit zu führen? Wieweit waren ihre Initiativen Mittel zum Zweck, wie weit erzeugten sie vorher nicht vorhandene Einsichten? Sodann: Ist die Entwicklung der Kategorie des nichtstaatlichen Akteurs wirklich so ergiebig, wenn man ein bisschen über diesen Tellerrand schaut? Die bekannten backchannels im Ost-West-Konflikt (und nicht nur dort) erfüllten oft ähnliche Funktionen. Besteht Diplomatie in Krisensituationen nicht zu einem beträchtlichen Teil in Sondierungen, ebenso in Mediation durch Dritte?

Schließlich: ist die Zuspitzung auf einzelne mutige, entschlossene Personen nur einer Seite angemessen? Im israelisch-palästinensischen wie im nordirischen Fall gab es eine Fülle weiterer Unterhändler, die sicher bisweilen in Regierungsdiensten, ja sogar in dem von Geheimdiensten standen. Das wird in den Studien differenziert herausgearbeitet. Warum sollen die Gegenseiten als Kategorie herausfallen, weil sie keine private citizens waren? Mediation, Krisenmanagement und Versöhnungsgesten sind beachtenswerte Kategorien des staatlichen und nichtstaatlichen Verkehrs, aber auf vielen anderen Ebenen auch. Last, but not least ist Lehrs' Ansatz trotz aller Andeutungen von Rahmenbedingungen einer der individuellen Verhandlungen, der Diplomatie; strukturelle Fragen der jeweiligen globalen oder lokalen Ordnung und deren Wandel berücksichtigt er zu wenig. Man möge Massie, Cousins, Avnery und Duddy Denkmäler setzen, jedoch dabei überlegen, wer noch auf das Podest gehört. Ein diplomatiegeschichtliches Denkmal hat Lior Lehrs ihnen mit diesem Buch errichtet. Das ist gewiss ein beachtliches Verdienst.

Jost Dülffer