Daniel Aschheim: Kreisky, Israel, and Jewish Identity, New Orleans: University of New Orleans Press 2022, 225 S., ISBN 978-1-60801-242-8, USD 18,95
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Daniel Aschheim hat keine weitere Biografie von Bruno Kreisky vorgelegt, sondern eine interessante und gut lesbare Studie zu ausgewählten Aspekten, die das komplexe und widersprüchliche Verhältnis Kreiskys zu seiner jüdischen Identität, zum Staat Israel und zum Zionismus ausdrücken. Aschheim hat dafür mit zahlreichen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Interviews geführt. Darüber hinaus schöpft er aus bislang unveröffentlichten israelischen Primärquellen. Das bringt insgesamt wichtigen und neuen Erkenntnisgewinn.
Wie Aschheim darlegt, wurden Kreiskys Persönlichkeit und seine politischen Entscheidungen als österreichischer Außenminister (1959-1966) und langjähriger Bundeskanzler (1970-1983) von seiner jüdischen Herkunft maßgeblich beeinflusst. Als Teil einer assimilierten jüdischen Familie in den 1930er Jahren politisiert, war Kreisky vor allem mit linker Ideologie verbunden. Er lehnte die Vorstellung eines "auserwählten" jüdischen Volkes als irreführend ab und bekannte sich nur selten zu seinem Judentum. Obwohl 22 von Kreiskys Familienangehörigen im Holocaust ermordet worden waren und er selbst überzeugt war, dass Antisemitismus in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft tief verwurzelt war, förderte er später aus machttaktischen Überlegungen heraus das Narrativ von Österreich als "erstem Opfer" Nazi-Deutschlands.
Diese Ambivalenzen traten in der "Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre" zutage: Kreisky hatte 1970 vier ehemalige Nationalsozialisten in sein Regierungsteam aufgenommen und seine Minderheitsregierung bis 1971 von der FPÖ, der politischen Vertretung der "Ehemaligen", stützen lassen. Daran entzündete sich eine Kontroverse zwischen Kreisky und Simon Wiesenthal, dem Leiter des Dokumentationszentrums des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien. Nach der Nationalratswahl 1975, vor der sich kurzfristig eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ abgezeichnet hatte, erreichte die Auseinandersetzung zwischen den beiden ihren Höhepunkt. Wiesenthal enthüllte wenige Tage nach der Wahl die SS-Vergangenheit von FPÖ-Obmann Friedrich Peter. Kreisky verunglimpfte Wiesenthal daraufhin als Gestapo-Kollaborateur, wogegen Wiesenthal erfolgreich klagte.
Für Kreisky war Wiesenthal nicht nur ein politischer Gegner, er dürfte ihn auch als Bedrohung für sein eigenes Selbstbild als Österreicher wahrgenommen haben. Aus Dokumenten, auf die sich Aschheim bezieht, geht sogar hervor, dass sich Kreisky 1976 über ein angebliches Komplott beschwerte: Israelische Geheimdienstkreise würden Wiesenthal dabei unterstützen, seinen in psychiatrischer Behandlung in Israel befindlichen Bruder Paul Kreisky in die Niederlande zu entführen. Damit habe man ihn bloßstellen und unter Druck setzen wollen.
Ein weiteres Fallbeispiel, das Aschheim anführt, ist Kreiskys Reaktion auf die Geiselnahme von Marchegg im Jahr 1973. Zu diesem Zeitpunkt war Österreich die Zwischenstation für die jüdische Emigration aus Osteuropa. Als eine syrische Terrorgruppe mehrere Auswanderer als Geiseln nahm, um diese demografische Stärkung Israels zu unterbinden, reagierte Kreisky zunächst mit der Schließung des Transitlagers Schönau. Im Gegenzug ließen die Terroristen ihre Geiseln frei und konnten unter freiem Geleit nach Libyen ausfliegen. Für diese "Kapitulation" vor dem internationalen Terrorismus wurde Kreisky hart kritisiert. Die israelische Premierministerin Golda Meir kam am 30. September 1973 persönlich nach Wien, um den Kanzler umzustimmen. Die Unterredung zwischen ihr und Kreisky führte jedoch zu nichts, und Meir beschwerte sich im Nachhinein, dass ihr Kreisky nicht einmal ein Glas Wasser angeboten habe. Wie Aschheim betont, sei dies metaphorisch gemeint gewesen. In ihrem Bericht an ihr Kabinett äußerte sich Meir viel ausgewogener über Kreisky, als sie das öffentlich tat. Tatsächlich war das Zugeständnis von Kreisky nur vordergründig gewesen. Schönau wurde geschlossen, aber die jüdische Emigration via Österreich ging noch bis Ende der 1980er Jahre weiter. Dies wurde von Israel erst im Rückblick begrüßt, weil Meir Kreisky fürs Erste misstraute.
Laut Aschheim dürfte die Geiselnahme von Marchegg auch eine Rolle dabei gespielt haben, Israels Aufmerksamkeit kurz vor dem Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges am 6. Oktober 1973 abzulenken. Die militärischen Vorbereitungen Syriens erschienen im Kontext des Anschlags als ein defensives Manöver gegen mögliche israelische Vergeltungsmaßnahmen. Ein Mitglied des israelischen Sicherheitsrates erinnerte sich Aschheim gegenüber, dass Meir auf Kreisky und die Ereignisse in Österreich fixiert war - während die gleichzeitig vorliegenden Warnungen vor den Kriegsvorbereitungen in Ägypten und in Syrien nicht diskutiert wurden.
Aschheim widmet sich zudem insbesondere der nahostpolitischen Linie Kreiskys. Dieser war ein radikaler Kritiker des Zionismus und verneinte, dass Jüdinnen und Juden das Recht auf eine bestimmte Heimat hätten. Gleichzeitig spielten Israel und alle damit verbundenen Fragen entgegen seiner eigenen anderslautenden Beteuerungen eine besondere Rolle in seinem privaten wie öffentlichen Leben. Israel als Schutzhafen für Jüdinnen und Juden lag Kreisky am Herzen, ganz gleich wie er über den Zionismus dachte. Ungeachtet aller kritischen Worte hinsichtlich der israelische Politik unternahm Kreisky nie etwas, was die Legitimität des Staates Israel untergraben hätte. Der Besuch in Yad Vashem 1974 war für ihn eine emotionale Erfahrung, vor allem nachdem er den Namen eines Cousins auf der Liste der Opfer entdeckte.
Die israelische Politik wiederum nahm seine Meinung ernst, wenngleich auf unterschiedliche Weise: Parteifreund Yitzhak Rabin nannte Kreisky "einen dieser naiven europäischen Staatsmänner" (171). Dafür kam Likud-Chef Menachem Begin immer wieder auf Kreisky zurück, wenn es Probleme gab, obwohl ihn dieser öffentlich oft hart kritisiert hatte. Kreisky hatte überhaupt versucht, zu einem Mittler zwischen Israel und den Palästinensern zu werden, mit deren Sache er sympathisierte - freilich ohne die arabische Kultur und den Mittleren Osten wirklich zu verstehen. Als einer der ersten europäischen Politiker sprach sich Kreisky für eine Zwei-Staaten-Lösung aus und kooperierte seit den frühen 1970er Jahren mit moderaten Kräften in der Palästinensischen Befreiungsorganisation. In diesem Punkt ist Kreisky für Aschheim ein "Pionier" in der westlichen Welt (193). Kreisky habe die Madrider Konferenz 1991 und die Oslo-Verträge zwischen 1993 und 1995 nicht mehr erlebt, für deren Ziele und Ideale aber Fundamente gelegt.
Das Fazit des Autors lautet, Kreisky sei ein einzigartiger Politiker gewesen. Gerade seine persönlichen Schwächen, Widersprüche und Ambivalenzen seien mitverantwortlich für durchaus bedeutende Errungenschaften gewesen. Aschheims Buch ist nicht nur für die Fachwelt empfehlenswert.
Thomas Riegler