Rezension über:

Lisbeth Matzer: Herrschaftssicherung im 'Grenzland'. Nationalsozialistische Jugendmobilisierung im besetzten Slowenien (1941-1945) (= Nationalsozialistische 'Volksgemeinschaft'; Bd. 11), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021, XII + 462 S., ISBN 978-3-506-79185-6, EUR 99,00
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Rezension von:
Rolf Wörsdörfer
Darmstadt
Empfohlene Zitierweise:
Rolf Wörsdörfer: Rezension von: Lisbeth Matzer: Herrschaftssicherung im 'Grenzland'. Nationalsozialistische Jugendmobilisierung im besetzten Slowenien (1941-1945), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37699.html


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Lisbeth Matzer: Herrschaftssicherung im 'Grenzland'

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Wer in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre - etwa fünf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung - Slowenien bereiste, der war immer wieder verblüfft über die Deutschkenntnisse von Menschen der älteren Generation. Manchmal verwiesen diese auf Migrationserfahrungen der Zeit nach dem deutsch-jugoslawischen Anwerbeabkommen von 1968, nicht selten bestand jedoch auch ein Zusammenhang mit der NS- Besatzungspolitik zwischen 1941 und 1945. "Machen Sie mir dieses Land wieder deutsch", soll Hitler bei einem Besuch in Maribor (Marburg an der Drau) dem untersteirischen Reichskommissar aufgetragen haben. Die von der Wehrmacht okkupierten Teile des slowenischen Raums "deutsch" werden zu lassen, das zielte insbesondere auf eine umfassende Germanisierung von Angehörigen der damals jüngeren Generation. Die Eltern hatten das Deutsche noch auf den Schulen der Habsburgermonarchie erlernt, obwohl die Verbreitung der slowenischen Schriftsprache in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bereits große Fortschritte machte. Dies wog umso schwerer, als die Alphabetisierungsrate verglichen mit benachbarten südslawischen Regionen recht hoch war. Den Kindern und Enkeln wurde seit April 1941 der Gebrauch des Deutschen systematisch aufgezwungen, während das Slowenische im öffentlichen Raum unerwünscht war.

An der Fiktion, das ganze Land sei einmal "deutsch" gewesen, hielten zwischen den Weltkriegen die österreichischen Nationalsozialisten ebenso fest wie viele Angehörige der deutschen Minderheiten südöstlich der Alpen, die nach 1933 und erst recht nach 1938 in den Sog des NS-Regimes gerieten. Unter ihnen war auch die Vorstellung verbreitet, Slowenien sei ein seiner ursprünglichen Bestimmung entfremdetes "Grenzland", das auf dem Wege der nationalen Mobilisierung von Jugendlichen Anschluss an das Großdeutsche Reich finden müsse. Vor allem in der nach 1918 dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zugesprochenen Untersteiermark mussten die Besatzer nicht von vorn beginnen: Die überwiegende Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerungskomponente in den Städten verfügte über Erfahrungen im "Volkstumskampf" und war schnell bereit, die Assimilationspolitik des Regimes zu unterstützen. Andernorts, vor allem im gebirgigen Oberkrain, dominierte das Slowenische unangefochten; hier traf die Germanisierungspolitik auf größere Widerstände.

Lisbeth Matzers aus einer Dissertation hervorgegangene Studie, die zwischen Jugend- und Nationalismusforschung angesiedelt ist und die zugleich einen bislang wenig gewürdigten Aspekt der slowenischen, jugoslawischen und südosteuropäischen Geschichte einbezieht, basiert auf Archivalien, Publikationen und Egodokumenten aus dem deutsch- und slowenischsprachigen Raum. Zu den Verdiensten der Verfasserin zählt, dass sie von der Forschung lange Zeit vernachlässigtes Material gesichtet hat: Korrespondenzen und Aufzeichnungen von Funktionären der Hitlerjugend, Berichte über Erfolge oder Misserfolge von Deutschkursen, Dispute über die Versetzung österreichischer Lehrkräfte in das neue Besatzungsgebiet, Auswertungen von Schulungslagern und schließlich Nachrichten über den wachsenden Widerstand der Partisanen.

Insgesamt vollzog sich die Jugendmobilisierung im Rahmen eines NS-Herrschaftsmodells, dessen Hauptakteur jeweils ein Chef der Zivilverwaltung war. Untersteiermark und Oberkrain, letzteres zusammen mit einigen nach 1918 jugoslawisch gewordenen Teilen Kärntens, unterstanden den Gauleitern in Klagenfurt und Graz, die das besetzte Gebiet als Reichskommissare administrierten. Während das Regime die endgültige Annexion an das Großdeutsche Reich auf die Zeit nach Kriegsende verschob, sollte die Reichsjugendführung mit ihrer Politik der Zwangsassimilation die Voraussetzungen für ein Aufgehen der besetzten Territorien im erweiterten Reichsverband schaffen.

Die Gruppe der HJ-Unterführer, mit der sich Matzer überwiegend befasst, hatte entweder einen deutschnationalen Hintergrund oder war seit Frühjahr 1941 frisch für die "deutsche Sache" rekrutiert worden. Im Einzelfall mochte es sogar vorkommen, dass ehemalige Mitglieder des unterdessen verbotenen südslawisch-nationalen Turnerbundes Sokol ("Falke") in den Dienst der Besatzungsmacht traten. All dies ging mit einer Fülle an Widersprüchen einher: Die einzudeutschenden slowenischen Jugendlichen verstanden die Sprache der Besatzer am Anfang so wenig, dass deren Instruktionen für die Hitlerjugend zweisprachig erscheinen mussten. Auch nach Fortschritten im Deutschunterricht unterhielten sich die Schülerinnen und Schüler vor allem in unbeobachteten Momenten weiterhin auf Slowenisch. Begünstigt wurde das Germanisierungsprojekt wiederum dadurch, dass viele Sloweninnen und Slowenen nach Kroatien abgeschoben oder ins sogenannte Altreich deportiert worden waren. Wer bleiben durfte, dem versprach die Kollektivnaturalisierung und die mit ihr einhergehende Assimilation in der Regel berufliche Vorteile. Gleichzeitig drohte aufgrund des neuen Einbürgerungsstatus eine Rekrutierung durch die Wehrmacht, deren Dienststellen - ebenso wie die des Reichsarbeitsdienstes - mit den Funktionären der Hitlerjugend in Verbindung standen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Matzers Band hilft, eine Forschungslücke zu füllen, die sich zwischen der von Tone Ferenc 1980 vorgelegten Quellenedition zur NS-Entnationalisierungspolitik [1] und den kleineren, Ende der 1990er Jahre von Dušan Nećak und Stefan Karner herausgegebenen oder verfassten Arbeiten über die "Deutschen" [2] beziehungsweise die "deutschsprachige Volksgruppe" [3] in Slowenien aufgetan hatte. Das Buch zeichnet sich durch eine hohe argumentative Stringenz aus, weist aber stellenweise Redundanzen auf. Überzeugend ist die Verarbeitung der Literatur zur nationalsozialistischen Jugendmobilisierung im gesamten deutschen Machtbereich. Daneben hält sich die Verfasserin methodisch und terminologisch eng an die Studie von Rogers Brubaker zur "Ethnizität ohne Gruppen". [4] Bedauerlicher als das gehäufte Auftreten von unnötigen Anglizismen (Beispiel: "Other[ing] ") erscheint dem Rezensenten die Tatsache, dass im Register der "Mittelrhein", "Mecklenburg" und "Kurhessen" auftauchen, während bedeutende und im Text durchaus vertretene slowenische Städte wie Maribor, Celje (Cilli) oder Trbovlje (Trifail) ganz fehlen. Die Orientierung an den im Quellenmaterial vorherrschenden Termini lässt ein Slowenien erstehen, in dem es - um zwei Beispiele zu nennen - weder ein untersteirisches Städtedreieck noch die Bergbauregion an der Save gibt. Stattdessen dominieren die Raster der nationalsozialistischen Bürokratie ("Kreise", "Banne"). Nichtdestotrotz ist die Aufbereitung der NS-Quellen vielfach vorbildlich, aber ein Rückgriff auf in slowenischer Sprache verfasste Dokumentationen und Erinnerungen hätte das Gesamtbild plastischer werden lassen. Der Band gehört gleichwohl in jede Bibliothek zur Geschichte des Nationalsozialismus und in jede Literatur-Sammlung zum Alpen-Adria-Raum und zu Südosteuropa.


Anmerkungen:

[1] Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941-1945. Viri o nacistični raznarodovalni politiki v Sloveniji 1941-1945, hrsg. von Tone Ferenc, Maribor 1980.

[2] Dušan Nećak: "Nemci" na Slovenskem 1941-1955. Izsledki projekta, Ljubljana 1998; Ders. (Hg.): Die "Deutschen" in Slowenien. Kurzer Abriß/"Nemci" na Slovenskem. Kratek oris, Ljubljana 1998.

[3] Stefan Karner: Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien. Aspekte ihrer Entwicklung 1939-1997, Klagenfurt u.a. 1998.

[4] Rogers Brubaker: Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007.

Rolf Wörsdörfer