Megan Brown: The Seventh Member State. Algeria, France, and the European Community, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2022, XVIII + 346 S., 2 Kt., 5 s/w-Abb., ISBN 978-0-674-25114-4, EUR 39,95
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Im Jahr 2016 veröffentlichten die norwegischen Historiker Peo Hansen und Stefan Jonsson unter dem Titel "Eurafrica" ein Buch, das die These formulierte, die Europäische Union sei ein Produkt des Kolonialismus. Im Kern habe die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) seit 1958 das fortgesetzt, was die europäischen Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert begonnen hätten; es sei ein bislang von der Forschung übersehener Zweck der EWG gewesen, die europäischen Kolonien zu erhalten. Die These war inspiriert von den in den Kulturwissenschaften nach wie vor wichtigen postkolonialen Ansätzen, die Europa in starkem Maße von außen, das heißt nicht zuletzt von seinen kolonialen Auswüchsen, zu definieren bestrebt sind. Das Buch von Megan Brown knüpft an diese Debatte an und untersucht die Bedeutung Algeriens in Bezug auf die europäische Integration.
Algerien spielte in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Seit 1830 betrachtete die französische Regierung das Land als Kolonie, seit 1848 wurde der Norden als integraler Bestandteil des französischen Mutterlandes angesehen. Megan Brown interessiert sich aber weniger für die französische Kolonialpolitik als vielmehr für ihre europäischen Dimensionen. Schon in den 1920er Jahren sprachen einige französische Intellektuelle von "Eurafrique" und meinten damit eine Vereinigung des europäischen und afrikanischen Kontinents - oft als Reaktion auf den Aufstieg der Sowjetunion und der USA, die die europäische Vorherrschaft in der Welt bedrohten. Europa könne, so die Argumentation, angesichts der Entstehung dieser Machtblöcke nur bestehen, wenn es mit Afrika eine ökonomisch-politische Einheit bilde. Umgesetzt wurden diese Konzeptionen in der Zwischenkriegszeit allerdings nicht ansatzweise.
Nach 1945 hatten sich die Strukturen der Weltpolitik stark verändert. Der Ost-West-Konflikt strukturierte Europa neu, auch die Dekolonisation gewann an Bedeutung. Dies blieb nicht ohne Widersprüche für Algerien: Einerseits war Frankreich nicht bereit, der algerischen Bevölkerung die gleichen Rechte einzuräumen, die Franzosen in Frankreich selbst genossen. Andererseits hielt man in Paris an der Behauptung fest, dass Algerien ein integraler Bestandteil Frankreichs sei. Die europäische Integration allerdings spielte in den frühen 1950er Jahren für Algerien noch keine Rolle. Die französische Regierung beharrte in den Verhandlungen über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl darauf, dass Algerien nicht in den Vertrag einbezogen wurde. Der Hintergrund war, dass man fürchtete, die anderen europäischen Staaten, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, könnten von den nach wie vor erwarteten großen wirtschaftlichen Reichtümern in Algerien und Afrika insgesamt profitieren. Diese wollte man stattdessen allein für Frankreich reservieren.
Wenige Jahre später allerdings hatte sich die Situation erneut geändert. Die französische Armee hatte in Indochina ein Desaster erlebt, Gamal Abdel Nasser hatte sich gegen französisch-britische Kolonialvorstellungen am Suez-Kanal gestellt und die Unterstützung der USA und der Sowjetunion erhalten. Auch in Algerien waren die permanenten Konflikte zwischen autochthonen politischen Akteuren und französischen Siedlern zum Bürgerkrieg ausgeartet. Unter diesen Umständen versuchte die französische Regierung nun, die Zugehörigkeit des Landes zu Frankreich durch einen völkerrechtlichen Vertrag, den EWG-Vertrag, bestätigen zu lassen. Gleichzeitig ging es darum, das finanzielle Potential der künftigen EWG zu nutzen, um die teuren Investitionen in Nordafrika finanzieren zu können. Daher drängte Paris nun darauf, dass Algerien in den Vertrag eingebunden, also Bestandteil des geplanten Gemeinsamen Marktes werden müsse. Die Bundesrepublik Deutschland und Italien akzeptierten dies nur widerwillig. Als der Vertrag über den Gemeinsamen Markt 1958 in Kraft trat, änderte sich für Algerien zunächst nicht viel. Der gemeinsame Gütermarkt wurde erst im Laufe der 1960er Jahre schrittweise realisiert, 1962 allerdings war Algerien durch den Vertrag von Evian unabhängig geworden.
Megan Brown schildert diese Entwicklung kenntnisreich und auf dem Stand der Forschung. Insofern handelt es sich um ein lesenswertes Buch. Nicht überzeugend ist jedoch das, was sie als zentrale These des Buches vorstellt. Es sei ihr Ziel, so schreibt sie, "eine neue Lektüre der räumlichen Grenzen Europas und der Periodisierung der Dekolonisation" (8) zu vermitteln. Europa habe keine festen Grenzen, diese - und hierfür wird die kurzzeitige Mitgliedschaft Algeriens im Gemeinsamen Markt als Beispiel angeführt - seien vielmehr in ständigem Fluss. Im Schlusskapitel stellt sie dann auch den Austritt Großbritanniens aus der EU in diesen Kontext. Diese These allerdings ist weder neu noch überraschend, sie ist schlicht banal. Sie gilt für viele Randgebiete der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise Europäischen Union seit ihrer Gründung. Seit 1963 hat beispielsweise die Türkei Zugang zum Gemeinsamen Gütermarkt der EWG - allerdings nur zu diesem und ohne Mitglied zu sein. Die Schweiz hat durch bilaterale Verträge wesentliche Teile des EU-Rechtes übernommen ohne Mitglied zu sein. Auch die DDR war bis zu ihrem Untergang de jure in den Gemeinsamen Markt der EWG integriert. Weitere Beispiele dieser Art ließen sich leicht finden.
Auch die an die Argumente von Hansen und Jonsson angelehnte Interpretation der Europäischen Gemeinschaften als kolonialistisch trifft nicht zu. Kolonialistisch war die französische Politik, die die EWG nutzen wollte, um ihre Interessen gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung durchzusetzen. Dies gelang aber aus zwei Gründen gerade nicht. Einerseits wollte man sich in den anderen europäischen Regierungen nicht in die Abenteuer der französischen Kolonialpolitik hineinziehen lassen, andererseits wurde die EWG-Politik erst dann relevant, als die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien durch den Vertrag von Evian vom 18. März 1962 auf eine völlig andere Grundlage gestellt worden waren. Die Entwicklungspolitik der EG selbst, die mit dem Lomé-Abkommen von 1975 begann, folgte dann einer ganz anderen Logik.
Guido Thiemeyer