Gabriella Piccinni: Operazione Buon Governo. Un laboratorio di comunicazione politica nell'Italia del Trecento, Torino: Giulio Einaudi Editore 2022, XII + 323 S., 151 Farb-Abb., ISBN 978-88-06-25372-1, EUR 55,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Donald Weinstein: Savonarola. The Rise and Fall of a Renaissance Prophet, New Haven / London: Yale University Press 2011
Melanie Bauer: Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert. Eine prosopographisch-personengeschichtliche Untersuchung, Neustadt a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt 2012
Gabriella Piccinni: Il Banco dell'Ospedale di Santa Maria della Scala e il mercato del denaro nella Siena del Trecento, Ospedaletto: Pacini Editore S.p. A. 2012
Im Palazzo Pubblico in Siena befindet sich im Saal des Neunerausschusses (Sala dei Nove) das vielleicht berühmteste Wandfresko des italienischen 14. Jahrhunderts. Das Werk von Ambrogio Lorenzetti, gemalt 1338-1340, wird oft verkürzt als Buon governo bezeichnet und stellt die Effekte der guten und schlechten Regierung auf Stadt und Umland dar.
Gemeinhin gilt es als eine Art politischer Allegorie: Nicolai Rubinstein gab 1958 die Initialzündung zu einer langen und komplexen Debatte über die Deutung der Fresken in einer Zeit, in der politische Debatten über "Republikanismus" und Tyrannis einen ersten Höhepunkt erreichten. Rubinsteins Ansicht nach ist Lorenzettis Bildprogramm an Aristoteles, Thomas von Aquin und Aegidius Romanus orientiert; Quentin Skinner sah demgegenüber rechtliche Quellen, das Städtelob und die Ars dictaminis, v.a. Brunetto Latini, als Grundlage. [1]
Neuere - wenn ich recht sehe, nicht international rezipierte - Ansätze hat in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft Ulrich Meier vorgelegt, der dafür plädierte, die Fresken erstens nicht unhinterfragt als Ausdruck der politisch relevanten Bürgerschaft zu sehen, zweitens die Debatte nicht lediglich auf die Frage nach politischem Republikanismus zu verengen und drittens einen komparativen Ansatz zu verfolgen. [2] Ferner hat Heinrich Dormeier darauf hingewiesen, dass die Fresken nicht nur die Stadt, sondern auch sehr detailliert das städtische Umland als stark erschlossen und bevölkert von Personen und Tieren zur Anschauung bringen. [3]
Für das Verständnis der zu besprechenden Monographie sind drei neuere Beiträge von Bedeutung: Erstens ein pointiertes Büchlein des Kunsthistorikers Max Seidel, der im Jahr 2000 neben dem politischen Gehalt vor allem die landschaftsmalerischen Aspekte hervorhob [4]; zweitens ein international viel rezipierter Beitrag des französischen Historikers Patrick Boucheron, der 2013 die Fresken eng mit der Krise Sienas im Jahr 1338 in Beziehung setzte [5]; drittens eine Monographie der in Italien lange Jahre sehr präsenten (Kultur-)Historikerin Chiara Frugoni (gestorben 2022), die in den Malereien ein groß angelegtes politisches Programm ausmachte, sozialpolitische Konfliktlinien der Regierung der Nove hervorhob und die Bildkomposition stilvergleichend einordnete. [6]
Von Seiten der italienischen - präziser gesagt: Sieneser - Wissenschaft, die sich selbstverständlich eingehend mit den Fresken beschäftigt hat, legt nun Gabriella Piccinni als ausgewiesene Expertin des Sieneser 14. Jahrhunderts (die in den vorgenannten Beiträgen oft zitiert wird) eine neue Monographie vor, die in gewisser Weise die unterschiedlichen Forschungsrichtungen zusammenfasst und zugleich einen neuen Akzent aus dezidiert historischer Perspektive setzt.
Die Hauptthese ist inmitten des Buches formuliert: Eine detailgenaue, integrierte Analyse der Bilder mit den Dokumenten (d.h. sowohl die moraldidaktische volkssprachliche Inschrift als auch die Archivalien) lässt sie zu dem Schluss gelangen, dass eine "ideologische" bzw. "propagandistische" Deutung zu kurz greife und dass man die Fresken auch als Quellen für das Leben in Siena im 14. Jahrhundert nutzen könne (202), als eine universale Botschaft, allerdings mit Sitz im Leben (40).
Auch Piccinni erklärt den politischen Aussagegehalt, verortet die Fresken im urbanen Kontext und den Räumlichkeiten des seit 1297 erbauten Palastes, verankert sie historisch in der Statutengesetzgebung, der Krise des 14. Jahrhunderts, den Bankencrashs, den politischen Verschwörungen und der Regierung der Nove, politikgeschichtlich in der Tyrannis-Debatte und greift die allegorischen Deutungen zu den einzelnen Figuren auf, sie erklärt zudem Lorenzettis künstlerische Vorbilder. Das Buch ist in diesen Teilen voll von Detailbeobachtungen, die manchen bekannten Aspekt in einem neuen Licht erscheinen lassen (z.B. die Steine in den Händen des Furor in Rückbindung an die soziale Praxis des Steinewerfens, oder auch die berühmte Frauentanz-Szene im Kontext öffentlicher Tänze zu politischen Ereignissen).
Aber die größte Stärke der Monographie liegt in den gründlich recherchierten, ausweislich der Fußnoten mit vielen Kolleginnen und Kollegen diskutierten Detailanalysen zum Sieneser Leben, vor allem jenem des ceto medio, im Spiegel der Fresken, innerhalb und außerhalb der Stadt: seiner Mode, seiner Tätigkeiten im handwerklichen wie intellektuellen Bereich (die Artes-Schule direkt zwischen zwei Handels-botteghe), seiner städtischen Lebenswelt (Häuser, die erbaut und niedergerissen werden, ausgestattet mit Bassins, die Regenwasser sammeln, Schutzvorrichtungen auf Palastbalkons für Blumen, dann Holzpflöcke der Schuster mit Langsocken und Schuhen, beim Metzger darauf Trockenfleisch, bei den Tuchverkäufern bodenlange Stoffe zum Schutz der Ware vor Straßenstaub; angemalte Fassaden, teils mit geometrischen, polychromen Musterungen). Man sieht das Zusammenleben von Mensch und Tier, Piccinni klärt wirtschafts- und technikgeschichtliche Feinheiten bis hin zu minutiösen Beschreibungen der Geräte und Anbringungsarten, mit denen Wollballen oder Säcke zum Transport von Korn und Mehl auf Eselsrücken befestigt werden; zudem Jagd und Jagdgewohnheiten - selbst die Schafs- und Schweinerassen werden identifiziert und historisch verortet (pecore garfagnine, seit 1172 bezeugt; Schweine der razza cinta, hier wohl erstmals piktural verewigt).
Besonders hebt Piccinni auch die Bedeutung der Darstellung des Umlandes mit seinen Kastellen, Poderi, Bauernhäusern, Straßen, Kornfeldern, Weinbergen, Olivenhainen, Weidegründen, Minen, Salinen, Wäldern, Bewässerungssystemen, Brücken hervor und bindet dies an die Entwicklungen der herrschaftlichen Ausdehnung vom Contado bis zum Meer im 14. Jahrhundert rück. Auch hier werden wieder Details bis hin zur Straßenpflasterung, zur architektonischen Darstellung der gemauerten Brücke über den Fluss, aber auch die kleinere Infrastruktur erklärt, wenn etwa ein Bauer mit zwei Hühnern in den Händen einem beladenen Esel inmitten von Kornfeldern hinterherläuft, während eine Hirtin Schafe zur Weide führt.
Arbeit und Geschäftigkeit, so Piccinni, sei eine weitere zentrale Aussage des Freskos, und sie zeigt die Gesellschaft in ihrer Komplexität, Frauen und Männer, von den Signori über Diener, Bauern, Bürger, Angestellte, Vaganten bzw. Bettler, Kleinhändlern, bis hin zu Fischern mit ihren Netzen und Schustern, die gestikulieren oder auf Leder kauen, um es weicher zu machen. Überhaupt erscheint die gesamte Stadt als grande bottega (221), von der Bank des Schneiders oder Barbiers bis hin zu der des Geldwechslers; in jener des Tuchhändlers (lanaiolo) sind die Arbeitsschritte der Produktion nachvollziehbar. Sämtliche Objekte sind funktional dargestellt, bis hin zur Waage der Iustitia oder dem Joch der Superbia, aber auch der hydraulischen Wassermühle, bei der sich Baumreste ansammeln (ein Verweis auf die Überschwemmung von 1318?).
Nun könnte man so fortfahren (und Piccinni tut dies) mit Naturdarstellungen (Regen, Hagelkörner...), Alltagsszenen (streunende Katzen und Hunde, ein störrischer Esel an der Leine...) usw. Diese Detailversessenheit war Lorenzetti bekanntlich zu Eigen (in der Sieneser Ausstellung von 2017 wurde sie eindrücklich in Szene gesetzt). Piccinni sieht in ihr eine politische Botschaft (Operazione Buon Governo), indes etwas anders als zuletzt Boucheron: nicht als Reaktion auf die Krise, deren Ausmaße die Nove 1338 noch nicht hätten abschätzen können, sondern als Darstellung und Ansporn zum konsensualen Regieren einer nicht befriedeten Gesellschaft und Wirtschaft im Wandel, auch als Bitte um Vertrauen (243). Darauf höbe auch die Schönheit der Stadtdarstellung ab, als "symbolische Versicherung" (rassicurazione simbolica, 258). Aber nicht Wahrheit sei das Ziel Lorenzettis und seiner Auftraggeber gewesen, sondern ein rhetorisches Bild (270) für einen weiten Rezipientenkreis. Dies zeige sich nicht zuletzt an der volkssprachlichen Inschrift, die eventuell, wie auch die Fresken selbst, durch die Ausarbeiter der gleichzeitigen Statuten, mit dem Maler zusammen als autore comune, erstellt worden sei.
Auf diese Weise und in dieser Intensität hat man die berühmten Fresken bisher nicht als Darstellung des täglichen Lebens in Siena präsentiert bekommen, zusammen mit bestechend klaren, in dieser Qualität kaum gesehenen Detailfotos. Piccinni zeigt somit eindrucksvoll, was historisch-interdisziplinäres close reading von Bildquellen vermag.
Anmerkungen:
[1] Nicolai Rubinstein: Political Ideas in Sienese Art. The Frescoes by Ambrogio Lorenzetti and Taddeo di Bartolo in the Palazzo Pubblico, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 21 (1958), 179-207; siehe auch: Quentin Skinner: Ambrogio Lorenzetti. The Artist as Political Philosopher, in: Proceedings of the British Academy 72 (1986), 3-56.
[2] Ulrich Meier: Vom Mythos der Republik. Formen und Funktionen spätmittelalterlicher Rathausikonographie in Deutschland und Italien, in: Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner. Mit einem Geleitwort von Reinhart Koselleck, hg. von Andrea Löther / Ulrich Meier / Norbert Schnitzler / Gerd Schwerhoff / Gabriela Signori, München 1996, 345-387; Ders.: Die linke und die rechte Waagschale der Justiz. Die Rezeption der aristotelischen Lehre der Teilgerechtigkeiten bei Albertus Magnus und Ambrogio Lorenzetti, in: Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs des späteren Mittelalters, hg. von Petra Schulte / Gabriele Annas / Michael Rothmann, Berlin 2012, 63-88. Siehe auch: Petra Schulte: Die Fresken des Palazzo Spreca. Oder: Päpstliche Autorität und kommunaler Gehorsam im Viterbo des 15. Jahrhunderts, in: QFIAB 101 (2021), 348-374.
[3] Heinrich Dormeier: Bauern und Landleben in der Kunst des späten Mittelalters, in: Landwirtschaft und Dorfgesellschaft im ausgehenden Mittelalter, hg. von Enno Bünz, Ostfildern 2020, 31-72.
[4] Max Seidel: Dolce vita. Ambrogio Lorenzettis Porträt des Sieneser Staates, Basel 2000 (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel, 33).
[5] Patrick Boucheron: Conjurer la peur: Sienne, 1338: essai sur la force politique des images, Paris 2013. Dt. Üb.: Gebannte Angst. Siena 1338. Essay über die politische Kraft der Bilder, Berlin/Schmalkalden 2017. Rezension: http://www.sehepunkte.de/2020/10/31013.html
[6] Chiara Frugoni: Paradiso vista Inferno. Buon Governo e Tirannide nel Medioevo di Ambrogio Lorenzetti. Bologna 2019. Rezension: http://www.sehepunkte.de/2020/11/34986.html>
Tobias Daniels