Geoffroy de Winchester: Livre des proverbes (Liber prouerbiourm). Edition présentée par Étienne Wolff (= Textes rares), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2022, 142 S., ISBN 978-2-7535-8659-8, EUR 19,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Agostino Paravicini Bagliani / Francesco Santi (a cura di): Medioevo latino e cultura europea. In ricordo di Claudio Leonardi, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2021
Tanja Broser: Der päpstliche Briefstil im 13. Jahrhundert. Eine stilistische Analyse der Epistole et dictamina Clementis pape quarti, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
Andreas Sohn (Hg.): Benediktiner als Päpste, Regensburg: Schnell & Steiner 2018
In der Reihe 'Textes Rares' präsentiert Étienne Wolff mit diesem kleinen Band in gewisser Weise eine Neuedition des Buches der Sprichwörter des 1107 verstorbenen Gottfried von Winchester, der seinen Namenszusatz daher erhielt, dass er in der Benediktinerabtei Swithun bei Winchester Prior war. Gottfried gehört zu dem Personal, das die normannische Eroberung Englands auf die britischen Inseln 'gespült' hat.
Dieser frühe Vertreter der 'Renaissance des 12. Jahrhunderts' ist wenig bekannt: Er hat nur wenige Werke hinterlassen und die Forschung - nicht zuletzt aus diesem Grunde - ist Gottfried nur selten zu Leibe gerückt (8). Der Liber proverbiorum Gottfrieds ist in der Zwischenzeit zweimal ediert worden: einmal durch Thomas Wright, der damit die Editio princeps vorgelegt hat, und einmal durch Hartwig Gerhard. [1] Nun stellt Wolff fest, dass die textkritisch zweifellos bessere Edition von Gerhard in Frankreich nur zweimal vorhanden ist. Das ist Grund genug, diese Neuedition anzugehen - und sich in Referenzen auf vorgängige Editionen zunächst an den in Frankreich deutlich häufiger zu findenden Wright zu halten (24). [2]
Das bedeutet also: Wolff geht zunächst von der Textgestalt bei Wright aus, korrigiert aber, wo immer geboten, v.a. nach Gerhard, teils auch nach eigenem Ermessen. Die Anmerkungen sind indes nur an der Übersetzung angefügt: Um die Eingriffe im lateinischen Text nachzuvollziehen, muss man also immer in die französische Übersetzung schauen. Der Aufwand dafür hält sich in engen Grenzen, da lateinischer und französischer Text pseudo-synoptisch gesetzt sind: Die 'verso'-Seiten enthalten den lateinischen, die 'recto'-Seiten den französischen Text. Um noch einmal die Anmerkungen anzusprechen: Anmerkungen aller Art sind in einem Apparat zusammengefasst; textkritische Anmerkungen, Similien und Erklärungen jedweder Art sind in den konsekutiven 344 Fußnoten konzentriert.
Die textkritischen Angaben sind sehr plausibel und scheinen durch und durch verlässlich; Wolff korrigiert, wie erwähnt, nötigenfalls auch die bessere Edition von Gerhard (121, Anm. 303). Die Similien werden zwar gründlich, aber doch behutsam nachgewiesen: So sehr Wolff zwar die Arbeit von Gerhard und Maaz, der sich mit der mittelalterlichen Epigrammatik befasst hat, schätzt, so ist er doch auch der Meinung, dass die "Quellenforschung allemande" dazu neige, Parallelen übermäßig zu ponderieren (11). [3]
Der Text ist sowohl im Lateinischen als auch Französischen korrekt, Flüchtigkeitsfehler sind mit der Lupe zu suchen (126: crearit für creavit). Die Übersetzung, die ganz bewusst keine Nachdichtung ist, hilft beim Verständnis der teilweise doch recht unzugänglichen Distichen - wenn man denn des Französischen mächtig ist. Und damit erreichen wir die Frage, wer die Zielgruppe dieses Bändchens sein mag: Für Frankreich ist das leicht zu beantworten, aber lohnt die Beschaffung für deutsche Bibliotheken? Der Text ist, wie gesagt, vor allem an der Editio princeps orientiert, korrigiert aber stellenweise auch die Gerhard-Edition. Letztere ist in Deutschland deutlich häufiger zu finden als in Frankreich.
Zwar hilft die Wolff'sche Übersetzung häufiger einmal beim (raschen) Verständnis des Liber proverbiorum, aber im realen deutschen universitären Unterrichtsalltag wird diese Hilfe vielfach eine Chiffre durch eine andere Chiffre ersetzen. Doch liefert Wolff natürlich nicht nur eine aktualisierte Edition und Übersetzung, sondern schreitet in der knappen, aber gehaltvollen Einleitung (7-24) die (wenig bekannte) Biographie des Autors, den Forschungsstand, die Epigramme als solche ab, kommt auf das Verhältnis Gottfrieds zur Antike zu sprechen, stellt die Epigramme mit Blick auf die behandelten Themen vor, und kommt natürlich auch auf die Sprache, den Stil und die Metrik und das Nachleben zu sprechen. Bei letzterem Thema schneidet Wolff auch die - gerade bei mittelalterlichen Autoren - häufig gestellte Frage nach der sprachlich-literarischen Qualität des Opus an. Er kommt zu der Antwort, dass er zwar nicht so weit gehen möchte, ein missverstandenes Genie wiederzuentdecken; er attestiert Gottfried aber nicht zu vernachlässigende Qualitäten (24).
Um noch rasch zu umreißen, was Gottfried bietet: In 238 Epigrammen, deren Länge von einem bis auf neun Distichen anwächst, behandelt der Prior von Winchester das grundsätzliche Thema von Laster und Tugend, was genauer die folgenden Bereiche berührt: Freundschaft, guter und schlechter Gebrauch der Sprache, Neid, alltägliche Lebensführung. Nach der Vermutung von Wolff wandte Gottfried sich damit an den Säkularklerus, möglicherweise mit der Idee, den Text als Unterrichtsmaterial an Kathedralschulen zu verwenden (17).
Lesenswert ist der Text allemal - auch ohne dringendes wissenschaftliches Interesse. Vielfach liefert Gottfried Lebensweisheiten, die heutzutage für teuer Geld von sogenannten 'Lifecoaches' zu lernen sind.
Anmerkungen:
[1] Thomas Wright: The Anglo-Latin Satirical Poets and Epigrammatists of the Twelfth Century (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, 59), 2 Bde. London 1872, hier Bd. 2, 103-147 (mehrfach digital); Hartwig Gerhard: Der Liber Proverbiorum des Godefrid von Winchester. Hammelburg 1974.
[2] Eine Suche im Karlsruher Virtuellen Katalog erweist für die Gerhard-Edition insgesamt 14 Einträge. In Nordrhein-Westfalen ist dieser Band allein elfmal verfügbar. (Suche am 06.04.2023).
[3] Wolfgang Maaz: Lateinische Epigrammatik im hohen Mittelalter. Literarhistorische Untersuchungen zur Martial-Rezeption (Spolia Berolinensia. Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2). Hildesheim 1992.
Andreas Kistner