Wolfgang Treue: Judengasse und christliche Stadt. Religion, Politik und Gesellschaft im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Frankfurt/M.: Campus 2023, 466 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51675-2, EUR 49,00
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Thorsten Burger: Frankfurt am Main als jüdisches Migrationsziel zu Beginn der Frühen Neuzeit. Rechtliche, wirtschaftliche und soziale Bedingungen für das Leben in der Judengasse, Wiesbaden: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 2013
Philipp Kratz: Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945, Göttingen: Wallstein 2019
Fritz Backhaus / Raphael Gross / Sabine Kößling et al. (Hgg.): Die Frankfurter Judengasse. Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Geschichte, Politik, Kultur, München: C.H.Beck 2016
Der vorliegende Band zur Geschichte der Frankfurter Judengasse bietet auf rund 400 Seiten einen umfassenden Überblick über die christlich-jüdischen Beziehungen im frühneuzeitlichen Frankfurt. Dabei ist es Wolfgang Treue ein Anliegen, die Gründe für die langfristige Koexistenz beider religiöser Gruppen zu verdeutlichen (21). Dazu verortet er die Judenschaft in ihrem Beziehungsgeflecht zwischen Bürgerschaft, Rat und Kaiser, wobei Letztere maßgeblich die rechtlichen Bedingungen vorgaben, während die Beziehungen zu den christlichen Bewohnern vor allem den Alltag innerhalb der Stadt beeinflussten. Quellengrundlage bilden dabei serielle Quellen wie Ratsprotokolle, Diurnalia und Rechnereiamtsbücher.
In zwölf Kapiteln werden verschiedene Themen unter den genannten Prämissen beleuchtet und im Zuge der thematischen Darstellung über die longue durée der frühen Neuzeit verfolgt. Einleitend werden die Geschichte der beiden ersten, mittelalterlichen jüdischen Gemeinden und die Entstehung der dritten Gemeinde geschildert. In den ersten Kapiteln werden die politischen Rahmenbedingungen vorgestellt, die das Leben der Frankfurter Jüdinnen und Juden in der frühen Neuzeit bestimmten. Berücksichtigung finden dabei das besondere Verhältnis zum Kaiser, aber auch die verschiedenen innerstädtischen Gruppen und ihr Einfluss auf die Ratspolitik. Im zweiten Teil des Bandes kommen vor allem soziale und kulturelle Aspekte, wie beispielsweise Konversionen, zur Sprache.
Drei Begriffe - nebeneinander, miteinander und gegeneinander - bilden die Orientierungspunkte der Darstellung, zwischen denen sich die christlich-jüdischen Beziehungen im frühneuzeitlichen Frankfurt bewegten. Vielfältige Beispiele zeigen, wie diese Begriffe im Alltag offenbar wurden.
Das Nebeneinander wurde durch den abgetrennten Wohnraum vor allem physisch erfahrbar. Innerhalb der Mauern der Judengasse entstand eine Parallelgesellschaft, die Wolfgang Treue in Abgrenzung zu Matthias Schnettger [1] bewusst nicht mit Anführungsstrichen versieht (58, FN 1). Die zugestandenen jurisdiktionellen und religiösen Freiräume ermöglichten eine freie Ausgestaltung des religiös-kulturellen Lebens in der Judengasse. Es entwickelte sich eine Gemeinschaft, die - obwohl außerhalb der Ständegesellschaft stehend - eigene soziale und rechtliche Unterschiede zum Beispiel durch Kleider- und Luxusordnungen markierte.
Vor allem in geschäftlichen Beziehungen fand das Miteinander der städtischen Gruppen statt. Darüber hinaus entstanden Beziehungen bei der Versorgung christlicher Patienten durch jüdische Ärzte, die Aufnahme jüdischer Patientinnen und Patienten in städtische Hospitäler oder bei der Schaffung von Kunstgegenständen. Gegenseitige Bedienstetenverhältnisse oder Hilfe in Krisenzeiten gehörten ebenso zum alltäglichen Miteinander. Der Autor betont, dass die Überlieferung oftmals recht einseitig Konflikte umfasst. Das friedliche Miteinander wurde jedoch meist nicht direkt überliefert, sondern wird vielmehr aus dem Kontext ersichtlich. Ein weiterer, wichtiger Punkt des Miteinanders war die Kooperation der jüdischen Führungselite mit dem Rat: Als Bindeglied zwischen Gemeinde und Obrigkeit agierte der Vorstand der jüdischen Gemeinde als Ansprech- und Verhandlungspartner. Vor allem der "Nahrungsschutz" der einheimischen jüdischen Bevölkerung war von Zusammenarbeit geprägt. Sowohl der Magistrat als auch die Judenschaft hatten daran ein Interesse, sodass vor allem Maßnahmen gegen Kriminalität oder "unliebsame" Fremde effektiv umgesetzt wurden. Auch bei der Brand- oder Seuchenbekämpfung arbeiteten Rat und Vorsteher eng zusammen.
Wirtschaftliche Interessen konnten aber auch zum Gegeneinander führen. Durch die Beschränkungen der ökonomischen Tätigkeiten von Jüdinnen und Juden wurden prinzipiell separate Wirtschaftsfelder (vor allem im Kredit-, Pfand- und Handelsgeschäft) geschaffen. Allerdings erfuhr vor allem der Warenhandel nicht in allen Bereichen genaue Regelungen und die vielfachen, meist erfolgreichen Versuche jüdischer Geschäftsleute, in andere Sparten vorzudringen, riefen zumeist den Protest der christlichen Händler hervor. Sorge vor wirtschaftlicher Konkurrenz war Haupttriebfeder sozialer Konflikte und Unruhen, wie in den Kapiteln zu alltäglichen Konflikten und den sozialen Spannungen aufgezeigt wird.
Insgesamt wird deutlich, dass die Politik des Rates vorrangig auf Ausgleich und Kompromissfindung zwischen allen städtischen Gruppen bedacht war und damit die überwiegend friedliche Koexistenz ermöglichte. Offenkundig wird auch, dass die Judenschaft selbstverständlich im städtischen Umfeld agierte und die ihr zugestandenen sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Räume geschickt zu nutzen wusste - sei es zur Erhaltung bereits erworbener Rechte oder zur Ausweitung eigener Handlungsspielräume. Wichtige Zäsuren im Zusammenleben waren dabei die Beförderung jüdischer Ansiedlung durch den Rat im 16. Jahrhundert, der effektive und nachhaltig umgesetzte kaiserliche Schutz im Zuge des Fettmilchaufstands im frühen 17. Jahrhundert, die Erweiterungen wirtschaftlicher Tätigkeitsfelder durch die Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs ebenso wie das Aufkommen des Handels mit "Kolonialwaren" im 18. Jahrhundert sowie die sozialen Veränderungen, die durch die beginnende Aufklärung einsetzten und Anfang des 19. Jahrhunderts zur endgültigen Auflösung des abgetrennten Wohnbereichs führten.
Der Band wird durch einen ausführlichen Anhang ergänzt, der neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis auch eine umfangreiche Tabelle über die sogenannte "Stättigkeit" beinhaltet. Die Aufbereitung in tabellarischer Form ermöglicht eine schnelle Übersicht über den Inhalt der Bestimmungen und zeigt deren Entstehungskontext auf. Ebenso finden sich einige Abbildungen, die vor allem die Beschreibungen von Gemälden und Kunstgegenständen nachvollziehbarer machen.
Die Darstellung wurde thematisch aufgebaut, "da sie die Möglichkeit bietet, bestimmte Prozesse über einen längeren Zeitraum fokussiert nachzuverfolgen" (25). Diesem Anspruch wird der Band durchweg gerecht. Die Vorgehensweise ermöglicht es den Leser*innen des Bandes, die Kapitel nach Interessenlage zu rezipieren, ohne an eine Reihenfolge gebunden zu sein. Das Kapitel zu den sozialen Konflikten, in deren Zusammenhang auch der Fettmilchaufstand als einschneidendes Ereignis der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte Frankfurts thematisiert wird, hätte dabei durchaus am Beginn des Bandes positioniert werden können, weil auf eben diesen vielfach Bezug genommen wird.
Insgesamt bietet der Band eine leserfreundliche Gesamtdarstellung des jüdischen Lebens im mehrheitlich christlich geprägten Frankfurt der frühen Neuzeit. Die dichte Darstellung auf umfangreicher Quellenbasis und das ausführliche Literaturverzeichnis machen Wolfgang Treues Arbeit zu einem hervorragenden Einstiegswerk für jeden, der sich mit der jüdischen Geschichte Frankfurts beschäftigen möchte ebenso wie für Kenner*innen, die damit auf eine kompakte Gesamtdarstellung zurückgreifen können.
Anmerkung:
[1] Vgl. Matthias Schnettger: Sichtbare Grenzen. Katholiken, Reformierte und Juden in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt, in: Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, hgg. von Julia A. Schmidt-Funke / Matthias Schnettger, (Mainzer Historische Kulturwissenschaften, Bd. 31), Bielefeld 2018, 73-98, hier 91.
Lisa Astrid Bestle