Andrei S. Markovits: Der Pass mein Zuhause. Aufgefangen in Wurzellosigkeit (= Jüdische Kulturgeschichte der Moderne; Bd. 28), Berlin: Neofelis Verlag 2022, 322 S., ISBN 978-3-95808-350-9, EUR 18,00
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Anfang der 1980er Jahre hielt sich der Wissenschaftler Andrei S. Markovits vom Center for European Studies der Harvard Universität in Deutschland auf, um ein Forschungsprojekt über die westdeutschen Gewerkschaften zu bearbeiten. Dabei war er häufig in Düsseldorf, wo der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seinen Hauptsitz hatte. Darüber hinaus bemühte sich der Forscher, Kontakt zu führenden Funktionären der Mitgliedsgewerkschaften herzustellen.
Deshalb rief Markovits auch im Stuttgarter Büro von Heinz Kluncker an, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Kluncker war seit dem Streik im öffentlichen Dienst 1974 berüchtigt und galt als Schreck der Arbeitgeber.
Markovits wurde von dem Stuttgarter Büroleiter ein Treffen zugesagt, aber weder die genaue Zeit noch der Ort wurden festgelegt. Wenige Wochen später absolvierte er schließlich eine Fahrt mit Kluncker in dessen Dienstlimousine von Düsseldorf nach Hamburg. Der Gewerkschaftsvorsitzende begrüßte den Gast in fließendem Englisch, was seinerzeit bei Gewerkschaftern keine Selbstverständlichkeit darstellte. Aus der Wehrmacht zu den Amerikanern desertiert, hatte Kluncker einige Zeit in den amerikanischen Südstaaten in Gefangenschaft verbracht. Nach Kriegsende entwickelte er sich zu einem transatlantischen Sozialdemokraten. Aus dem Forschungsaufenthalt von Markovits entstand nicht nur eine lange Freundschaft mit Kluncker, sondern auch eine bis heute sehr lesenswerte Studie über die Geschichte und Struktur der Gewerkschaften in der Bundesrepublik. [1]
Diese Anekdote ist bezeichnend für die Autobiografie. Markovits traf auf seinem politischen und akademischen Weg zahlreiche herausragende Persönlichkeiten, verbrachte Zeit an den weltbesten Institutionen und bereiste dabei viele Länder.
Angesichts der jüdischen Familiengeschichte war es keineswegs absehbar, dass Andrei Markovits einmal Forschungen zu Gewerkschaften betreiben würde, zumal in Deutschland. Die Autobiografie erzählt diesen Lebensweg, den Weg als Sohn einer ungarisch sprechenden Familie, geboren 1948 im rumänischen Timişoara, über Wien, New York City nach Cambridge, Massachusetts, an die Universität Harvard und schließlich als Professor an die University of Michigan in Ann Arbor. Dieser Weg ist von den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts geprägt, die in besonders heftiger Weise die Juden trafen. Es ist der Weg eines "jüdischen Kosmopoliten", eines Wurzellosen, wie es im Untertitel des Buches heißt.
Die im Berliner Neofelis Verlag erschienene und von Robert Zwarg übersetzte Autobiografie steht deshalb für mehr als die Geschichte einer Person. In ihr spiegeln sich die jüdischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts, deren epistemischer Wert gerade darin liegt, die Geschichte aus einer peripheren Perspektive zu betrachten. Dadurch können allgemeine Entwicklungslinien in einem anderen, einem neuen Licht erscheinen.
Bereits Markovits' Geburtsort Timişoara am vormals östlichen Rand des Habsburger Reiches zeichnete sich durch Multikulturalität und Vielsprachigkeit aus. Rumänisch, Ungarisch und Deutsch prägten den Alltag, ebenso wie Serbisch und Bulgarisch. Die Beschreibung seiner dortigen Jugend verbindet der Autor immer wieder mit Reflexionen über Wurzellosigkeit und Judenfeindschaft. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie auf, die zuhause Ungarisch sprach, aber zugleich der deutschen Kultur und Sprache zugewandt war. Diese Zuwendung war äußerst verbreitet bei Juden in Ostmitteleuropa. Sie hielt bei der Familie Markovits auch an, nachdem 28 Verwandte von den Deutschen im Holocaust ermordet worden waren.
Der Vater verachtete außerdem den Stalinismus und stand dem zunehmend repressiver werdenden realsozialistischen System in Rumänien ablehnend gegenüber. Folgerichtig bemühte er sich um eine Ausreiseerlaubnis. Kurz nach dem frühen Tod der Mutter 1958 genehmigten die rumänischen Behörden den Antrag. Andrei Markovits begab sich mit seinem Vater nach Wien, wo er die Matura, das österreichische Abitur, ablegte. Das postnationalsozialistische Land verließ er jeden Sommer, um Zeit in New York City zu verbringen. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren in ihrer Vielfältigkeit und Pluralität der Sehnsuchtsort des in der österreichischen Hauptstadt lebenden jüdischen Jungen aus Osteuropa. Nachdem sie ein Einreisevisum erhalten hatten, machten sie sich 1960 auf den Weg in die Neue Welt. Im Gegensatz zu seinem Vater, der stark durch die europäische Kultur und Tradition geprägt war, fühlte Andrei Markovits sich von Beginn an wohl. Dieses Gefühl bestätigte eine kurze Begegnung bei der Einreise am Flughafen in New York City. Der Einreisebeamte machte mit seinem Kaugummi pinke Blasen, also mit genau jenem "Zeug, was mein Vater [...], aber auch das bürgerliche Europa und das gut betuchte Wien als vulgär und absolut unziemlich für einen jungen Mann wie mich verteufelten, so unkultiviert und ungehobelt - so AMERIKANISCH. Natürlich führte das dazu, dass meine Freunde und ich die Kaugummis umso mehr liebten." (136).
Während der Vater nicht dauerhaft in den Vereinigten Staaten blieb, studierte Andrei Markovits an der Columbia University in New York, der Beginn seiner akademischen Karriere. Sie führte ihn später an das Center for European Studies der Universität von Harvard, wo er nicht nur das Forschungsprojekt zu den westdeutschen Gewerkschaften durchführte, sondern den breit rezipierten Aufsatz verfasste: "The Other 'American Exceptionalism'. Why Is There No Soccer in the United States?" Er befasste sich wissenschaftlich oft mit scheinbar randständigen Themen wie Sport und Hunden. Er publizierte des Weiteren zur deutschen Linken, zum Antiamerikanismus und seinem Verhältnis zum Antisemitismus. Schließlich erhielt Markovits 1999 eine Professur an der University of Michigan in Ann Arbor. Er benannte sie nach seinem prägenden akademischen Lehrer Karl W. Deutsch. Den in Prag geborenen Nationalismusforscher hatte er neben vielen anderen Intellektuellen in Harvard kennengelernt.
Trotz seiner akademischen Verankerung in den Vereinigten Staaten blieb Markovits dem alten Europa immer zugeneigt. Gerade mit Deutschland verband ihn ein Gefühl der Bewunderung und des Unbehagens, wie er im abschließenden Kapitel ausführt. Er bewundert, wie stark sich das traditionelle Deutschland zur institutionell gefestigten Demokratie der Bundesrepublik gewandelt habe. Diese Wandlung erkenne er analytisch an, aber die emotionalen Vorbehalte würden dadurch nicht aufgehoben.
Markovits schrieb viel über die verschiedenen Facetten des modernen Deutschlands, erhielt dafür große Anerkennung, wurde gar ein öffentlicher Intellektueller, dessen Wort in den Debatten Gehör fand. Von staatlicher Seite wurde ihm mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ebenfalls eine hohe Ehre zuteil; eine Universität verlieh ihm einem Ehrendoktortitel. Doch auch diese Gesten überdecken nicht seine innere Zerrissenheit gegenüber Deutschland, die Markovits folgendermaßen zusammenfasst: "Was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass mir Deutschland all diese Ehren gerade dafür verliehen hat, dass ich das Land kritisiert habe, dafür, dass ich es ständig daran erinnere, wie tief seine Sünden reichen, dass egal wie viele Ehrungen ich erhalte, ich niemals versöhnt sein werde. [...] Egal, wie unfair dieses Urteil ist, und egal wie großartig sich die Bundesrepublik mit der Vergangenheit Deutschlands auseinandergesetzt hat, Deutschland hatte nie eine echte Chance, mein Herz zu gewinnen." Ein derartiges Moment der Unversöhnlichkeit angesichts der deutschen Verbrechen, angesichts des Zivilisationsbruchs von Auschwitz kennzeichnet das Verhältnis vieler jüdischer Intellektueller zu Deutschland.
Somit steht Andrei Markovits' Lebensweg bei aller Einzigartigkeit zugleich in vielen Aspekten für eine kollektive jüdische Erfahrung im Nachkriegseuropa. Darunter fällt besonders die widerspruchsvolle, gespaltene Beziehung zum heutigen Deutschland, diese Mischung aus Bewunderung und Abscheu, aus intellektueller Beschäftigung und gefühlsmäßiger Distanz.
Die Autobiografie bietet ferner einen guten Einblick in die akademische Welt der Vereinigten Staaten, in die alternative Musikkultur der 1960er Jahre, vor allem in die Band The Grateful Dead, und die kulturelle Bedeutung des Sports. Auch wenn das Buch stellenweise etwas zu ausschweifend und anekdotisch wird, bereitet seine Lektüre große intellektuelle Freude. Dass der renommierte deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford) das Vorwort zur deutschen Ausgabe beisteuerte, unterstreicht die Bedeutung der Autobiografie.
Anmerkung:
[1] Andrei S. Markovits: The Politics of the West German Trade Unions. Strategies of Class and Interest Representation in Growth and Crisis, Cambridge 1986.
Sebastian Voigt